Schwangerschaftsabbruch
Das Recht auf körperliche Selbstbestimmung gilt auch für den Fall einer ungewollten Schwangerschaft. Dennoch muss das ungeborene Leben ebenfalls berücksichtigt werden.
Wir wollen Schwangere nicht bevormunden und setzen auf Prävention, um ungewollte Schwangerschaften möglichst zu vermeiden. Der Schwangerschaftsabbruch ist für uns das letztmögliche Mittel der Familienplanung. Trotzdem muss ein flächendeckendes und sicheres Angebot zur Verfügung stehen.
Wir sehen den Schwangerschaftsabbruch als einen medizinischen Eingriff an und fordern daher, dass bei jeder Frage eines potenziellen Schwangerschaftsabbruchs die schwangere Person zusammen mit ihren Ärzten eine individuelle Lösung sucht. Die gesetzliche Regelung muss diese individuellen Entscheidungen ermöglichen. Eine starre Wochenfrist, wie sie aktuell bis zur 14. Schwangerschaftswoche besteht, lehnen wir daher ab.
Darüber hinaus muss es jedem Arzt freistehen, das Angebot zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen offen zu kommunizieren und Aufklärung zu betreiben. Das Aufklärungsverbot nach § 219a StGB gehört abgeschafft [Redaktionelle Anmerkung: Dies wurde im Juli 2022 bereits umgesetzt].
Aufklärung und Verhütung als oberste Priorität
In einer perfekten Welt wäre jede Schwangerschaft auch eine gewünschte. Kein Verhütungsmittel funktioniert jedoch in 100 % der Fälle. Trotzdem ist es unser erklärtes Ziel, mittels Aufklärung und einfachem Zugang zu Verhütungsmitteln die Anzahl an ungeplanten Schwangerschaften auf ein Minimum zu reduzieren. Potenziell kann durch den konsequenten Einsatz von Verhütungsmitteln die Anzahl ungewollter Schwangerschaften um etwa die Hälfte reduziert werden. Um dieses Ziel zu erreichen, wollen wir schon in der Schule wissenschaftlich fundierte Lehre zum Thema Sexualität und Verhütung in mehreren Klassenstufen fest im Lehrplan verankern.
Verhütungsmittel wie die Pille, das Diaphragma oder die Spirale sollen künftig auf Rezept vom Hausarzt oder Gynäkologen als Kassenleistung erhältlich sein. Kondome und Schwangerschaftstests sollen ebenfalls niederschwellig und kostenfrei zur Verfügung stehen. Eine Rechnung für die “Pille danach” soll ebenfalls von den Krankenkassen erstattet werden. Über die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Verhütungsmethoden muss neutral und vorurteilsfrei aufgeklärt werden. Dabei sollten auch Sterilisationen und Vasektomien thematisiert werden. Die Forschung an Möglichkeiten der männlichen Kontrazeption, die in Synergie mit der weiblichen Kontrazeption das Risiko ungewollter Schwangerschaften noch einmal um Größenordnungen reduzieren könnte und zudem die Verantwortung gerechter verteilt, wollen wir stärker fördern.
All diese Punkte sollen in der Schule zu einem geeigneten Zeitpunkt in jeweils altersgerechter Weise Teil der Aufklärung sein. In diesem Rahmen soll auch Rausch- und Suchtmittelkonsum und dessen Auswirkungen auf das ungeborene Leben während einer Schwangerschaft thematisiert werden. Hier soll der Fokus insbesondere auf Alkohol als gängigstem Rauschmittel liegen. Darüber hinaus wollen wir über Aufklärungskampagnen auch die erwachsene Bevölkerung erreichen.
All dies hat zum Ziel, die Anzahl der ungewollten Schwangerschaften so weit wie möglich zu reduzieren, sodass sich die schwierige Frage des Schwangerschaftsabbruchs nur in Ausnahmefällen stellt.
Niemand sollte sich zum Schwangerschaftsabbruch gezwungen sehen, weil Verhütungsmittel zu teuer oder das Wissen um ihren Einsatz nicht ausreichend waren. Ein Schwangerschaftsabbruch darf niemals ein gängiges Mittel der Familienplanung werden, sondern sollte immer das letzte Mittel sein.
Aktuelle Situation in Deutschland
Generell ist der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland durch § 218 des Strafgesetzbuchs (StGB) unter Strafe gestellt. In § 218a sind jedoch drei Möglichkeiten geregelt, nach denen derzeit ein Schwangerschaftsabbruch in Deutschland straffrei durchgeführt werden kann. Demnach ist ein Schwangerschaftsabbruch möglich
- wenn der Abbruch vor der vollendeten 14. Schwangerschaftswoche erfolgt, eine Beratung stattgefunden hat und zwischen Beratung und Abbruch mindestens drei Tage vergangen sind (sog. Beratungsregel),
- bei körperlicher oder psychischer Gesundheitsgefährdung der Schwangeren, dann auch zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft (sog. maternale Indikation),
- wenn der Arzt von einer Sexualstraftat als Ursache der Schwangerschaft ausgeht und der Abbruch vor der vollendeten 14. Schwangerschaftswoche erfolgt (sog. kriminologische Indikation). Im Unterschied zu Punkt 1 entfällt hier die Beratungspflicht und damit die dreitägige Wartefrist.
Die allermeisten Schwangerschaftsabbrüche werden aktuell nach der Beratungsregel durchgeführt (ca. 96%). Die Beratung wird im § 219 StGB und im Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) geregelt. Sie wird durch staatlich anerkannte Beratungsstellen vorgenommen. Der Inhalt ist jedoch widersprüchlich definiert. Einerseits soll die Beratung “die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft […] ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind […] eröffnen” (StGB) und “dem Schutz des ungeborenen Lebens [dienen]” (SchKG), andererseits soll sie auch “ergebnisoffen zu führen [sein]” und “nicht belehren oder bevormunden” (SchKG).
Aktuell dürfen Ärzte – beispielsweise auf ihrer Praxiswebseite – nur darüber informieren, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Weitere Angaben bezüglich Ablauf, Risiken, den verwendeten Methoden oder sonstige Informationen sind nach § 219a StGB verboten. Bis zu einer Überarbeitung des Paragrafen im März 2019 war es Ärzten sogar verboten, überhaupt nur darauf hinzuweisen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Obwohl es hier um Informationen und Aufklärung geht, soll § 219a die “Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft” regeln.
Internationaler Vergleich: Wie ist der Schwangerschaftsabbruch in anderen Ländern geregelt?
Eine der liberalsten Gesetzgebungen zu Schwangerschaftsabbrüchen existiert aktuell in Kanada. Denn dort gibt es seit 1988 kein Gesetz mehr, das den Schwangerschaftsabbruch explizit regelt. Weltweit ist dies in nur drei weiteren Ländern der Fall. Seitdem ist ein Schwangerschaftsabbruch in Kanada eine medizinische Maßnahme wie jede andere auch. Im Gespräch mit dem Facharzt wird die Schwangere aufgeklärt, Alternativen werden erörtert, Fragen geklärt, und danach entscheidet sie sich für oder gegen den Eingriff. Eine festgeschriebene Schwangerschaftswoche, vor der ein Abbruch zu erfolgen hat, gibt es dort nicht [10]. Trotzdem sinkt die Rate an Schwangerschaftsabbrüchen in Kanada kontinuierlich und ist im internationalen Vergleich auf einem niedrigen Niveau. Dabei werden auch hier über 90 % der Abbrüche im 1. Trimester durchgeführt. Auch wenn es keine gesetzlichen Regelungen mehr gibt, hat die kanadische Ärzteschaft Leitlinien entwickelt, nach denen Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden.
Bei jedem Verbot muss man sich die Frage stellen, ob es das untersagte Verhalten wirklich verhindern kann, oder ob es nur in den illegalen Untergrund verschoben wird. Für Schwangerschaftsabbrüche zeigt sich, dass die Art der Gesetzgebung (liberal oder restriktiv) keinen nennenswerten Einfluss auf die Anzahl an Schwangerschaftsabbrüchen hat, sondern dass sie bei Restriktionen stattdessen in anderen Ländern oder illegal im eigenen Land durchgeführt werden. Eine restriktive Gesetzgebung geht jedoch mit einem wesentlich größeren Risiko für die Gesundheit der Schwangeren und einer erhöhten Sterblichkeit einher. Es muss also bereits die Annahme, dass ein Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen überhaupt faktisch realisierbar sei, grundlegend hinterfragt werden.
Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs nach dem Vorbild Kanadas
Mit der von uns angestrebten gesetzlichen Neuregelung verfolgen wir das Ziel, dass jede ungewollt schwangere Person individuell betrachtet werden kann. Da ungewollte Schwangerschaften aufgrund konsequenter Verhütung Ausnahmen darstellen sollten, müssen auch seltene Fälle in der Gesetzgebung bedacht und reflektiert werden. Beispielsweise muss auch im Fall einer nicht klar zu datierenden Schwangerschaft (wegen einer unregelmäßigen Periode oder einer sehr spät bemerkten Schwangerschaft) noch prinzipiell die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs bestehen. Eine feste Grenze im Sinne einer festgelegten Schwangerschaftswoche, bis zu der ein Abbruch noch möglich ist, wird diesem Anspruch jedoch nicht gerecht. Sie lässt sich unserer Ansicht nach auch biologisch kaum begründen, da die menschliche Entwicklung eben nicht in Stufen stattfindet, sondern ein kontinuierlicher Prozess ist, bei dem die Übergänge fließend sind.
Wir streben daher eine Neuregelung an, die sich an Kanada als Vorbild orientiert. Dort ist der Schwangerschaftsabbruch ein medizinischer Eingriff, der wie jeder andere medizinische Eingriff auch zwischen der schwangeren Person und ihren Ärzten besprochen wird. Eine festgelegte Frist, innerhalb derer ein Abbruch vorgenommen werden muss, entfällt dadurch. Eine Verschiebung des Zeitpunktes des Schwangerschaftsabbruchs hin zu weitaus späteren Wochen ist dadurch jedoch nicht zu erwarten, wie die Daten in Kanada seit über 30 Jahren zeigen [13]. Wir sind davon überzeugt, dass sowohl die Schwangeren als auch ihre Ärzte verantwortungsbewusst handeln, und es ist im Interesse aller, eine ungewollte Schwangerschaft weiterhin möglichst frühzeitig abzubrechen. Auch in Kanada werden über 90 % der Schwangerschaftsabbrüche im 1. Trimester durchgeführt [13] und wären auch nach aktueller Rechtslage in Deutschland straffrei. Diese Neuregelung würde jedoch auch die schon erwähnten Einzelfälle abdecken, bei denen gute Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch vorliegen, die Frist jedoch nicht eingehalten werden kann.
Man denke beispielsweise an eine schwangere Person, der ein Schwangerschaftsabbruch-Termin kurz vor Ende der Frist abgesagt werden muss (beispielsweise auf Grund von Krankheit des durchführenden Arztes) und die vor Ablauf der Frist keinen neuen Termin bekommen kann. Ist die Situation einen Tag nach Schwangerschaftswoche 14 plötzlich eine vollkommen andere?
Ein anderes Beispiel wäre eine Schwangerschaft nach Sexualstraftat, für die Beweise fehlen und bei der daher die kriminologische Indikation nicht zum Tragen kommen kann. Bei restriktiver Gesetzgebung könnten die Betroffenen in einem solchen Fall dazu gezwungen sein, das Kind ihres Vergewaltigers auszutragen – für uns eine absolut unmenschliche Gesetzeslage.
Um auch solche Einzelfälle adäquat und individuell berücksichtigen zu können, fordern wir eine Abkehr von starren Fristen hin zu mehr Anerkennung dafür, dass Schwangere und ihre Ärzte verantwortungsvoll mit diesem Thema umgehen und einen Abbruch nur nach sorgfältigem Abwägen des Nutzens, des Risikos, der Alternativen und der ethischen Fragestellungen durchführen. Im medizinischen Alltag wird dies bereits in vielen anderen Bereichen praktiziert, und die empirischen Daten aus Kanada belegen diese Einschätzung, die zudem in ihrer Anerkennung der Vernunftbegabtheit des Menschen zutiefst humanistisch ist.
Schwangerschaftsabbrüche werden langfristig nicht als psychisch belastend wahrgenommen und führen auch nicht zu psychischen Störungen, sondern werden von den Betroffenen in der überwiegenden Mehrheit als die korrekte Entscheidung bewertet.
Strafbar sein soll ein Schwangerschaftsabbruch somit nur dann, wenn er gegen den Willen der Schwangeren durchgeführt wird. Die Nötigung und alle anderen Fälle, in denen auf den Willen der Schwangeren eingewirkt wird, sollen strafbar sein – egal, ob sie zum Abbruch oder zum Austragen des Kindes gebracht werden soll. Ausschlaggebend muss immer der Wille der Schwangeren sein, so wie in der Medizin auch sonst der Patientenwille oberste Priorität hat. Auch bei einwilligungsfähigen Minderjährigen wollen wir dieses Recht gesetzlich stärken, so dass diese durch ihre Eltern weder zum Abbruch noch zum Austragen des Kindes gezwungen werden können.
Um soziale Ungleichheiten zu vermeiden, fordern wir, dass die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten des Schwangerschaftsabbruchs übernehmen.
Neuregelung der Beratungspflicht
Jede medizinische Maßnahme setzt eine umfassende und vollständige Aufklärung voraus, so auch ein Schwangerschaftsabbruch. Die medizinischen Aspekte wie Ablauf und Risiken der unterschiedlichen Methoden werden der Schwangeren in unserem Modell weiterhin von den durchführenden Ärzten erläutert. Für die Aufklärung über die sozialen Aspekte, beispielsweise über finanzielle Unterstützung nach der Geburt, das Leben mit einem behinderten Kind, Informationen über eine Berufsausbildung mit Kind oder die Möglichkeit, das Neugeborene zur Adoption freizugeben, bedarf es jedoch auch einer Expertise auf diesem Gebiet. Diese liegt aktuell bei den Beratungsstellen, bei denen in der aktuellen Regelung vor jedem Schwangerschaftsabbruch (nach der Beratungsregel) eine verpflichtende Beratung erfolgen muss.
Im Sinne einer umfassenden Aufklärung möchten wir diese Beratungspflicht beibehalten. Aktuell hat die Beratung nach § 219 StGB jedoch das Ziel, “die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen.” Eine solche tendenziöse Beratung lehnen wir ab. In unserer Vorstellung muss die Beratung neutral und ergebnisoffen gestaltet sein und eine freundlich-sachliche Aufklärung ermöglichen. Denn nur in Anbetracht aller möglichen Optionen ist eine wirklich freie Entscheidung für oder gegen eine Schwangerschaft möglich. Die entsprechenden Stellen in § 219 StGB und Schwangerschaftskonfliktgesetz möchten wir daher präzisieren, um dieses Ziel klarzustellen. Bei der dreijährlichen Überprüfung der anerkannten Beratungsstellen wird die Einhaltung dieser Vorgaben geprüft.
Derzeit gilt eine dreitägige Wartefrist zwischen dem Zeitpunkt der Beratung und dem Zeitpunkt des Eingriffs [4]. Diese wollen wir ersatzlos streichen, da es bereits eine Regelung gibt, die Patienten vor einem Eingriff, wie beispielsweise einer Operation, eine Entscheidungsfrist einräumt. Schwangere, die sich in ihrer Entscheidung sicher sind, wollen wir durch eine erzwungene Wartefrist nicht unnötig belasten. Die Beratung soll auch telemedizinisch erfolgen können.
§ 219a StGB (“Werbeverbot”) gehört abgeschafft!
[Redaktionelle Anmerkung: Die Abschaffung von § 219a wurde im Juli 2022 bereits umgesetzt]
Die Idee, mit der Abschaffung des § 219a würden Ärzte Schwangerschaftsabbrüche aktiv bewerben (“Zwei Abtreibungen zum Preis von einer!”), halten wir für absurd und ein Scheinargument derjenigen, die Schwangerschaftsabbrüche aus religiösen oder ideologischen Gründen komplett verbieten wollen. Der Begriff des “Werbeverbots” ist irreführendes Framing. Es handelt sich vielmehr um ein Aufklärungsverbot, wie der Fall Kristina Hänel deutlich macht [8].
Medizinische Aufklärung darf jedoch niemals unter Strafe gestellt werden. Die Absurdität dieses Paragrafen wird klar, wenn man bedenkt, dass alle anderen Personen und Organisationen, die keine Ärzte sind, frei über den Ablauf von Schwangerschaftsabbrüchen informieren dürfen. Es ist nur jenen verboten, die diesbezüglich die meiste Expertise besitzen. Wir setzen uns dafür ein, dass der aufklärungsfeindliche § 219a endlich ersatzlos gestrichen wird.
Versorgung sicherstellen
Wir sehen anhand der vorhandenen Daten in Deutschland ein Mangel an Kliniken und Praxen, welche Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Lange Anreisezeiten und späte Termine können zu Verzögerungen führen, was mit einem größeren gesundheitlichen und psychischen Risiko für die Schwangere einhergeht.
Wenn ein Schwangerschaftsabbruch also notwendig ist, sollte er möglichst früh durchgeführt werden, was ein zeitnahes und flächendeckendes Angebot voraussetzt. Durch mehrere Maßnahmen wollen wir das Versorgungsproblem in Deutschland angehen.
Durch die klare Regelung der grundsätzlichen Legalität eines Schwangerschaftsabbruchs schaffen wir Rechtssicherheit für Ärzte. Hierdurch erwarten wir einen Anstieg der Anzahl von Praxen und Kliniken, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Auch im Medizinstudium kann das Thema nun Teil des Curriculums werden – was aktuell häufig nicht der Fall ist. Zusätzlich soll es für frühe Eingriffe, die medikamentös durchgeführt werden, die Möglichkeit einer vollumfänglichen telemedizinischen Beratung geben. Im Falle einer Entscheidung für den Eingriff soll es anschließend auch möglich sein, die benötigten Medikamente postalisch zuzusenden.
Gynäkologische Kliniken haben nach unserem Verständnis die Aufgabe, eine bestimmte Region auf ihrem Fachgebiet zu versorgen. Es darf nicht möglich sein, dass sich eine ganze Klinik aus weltanschaulichen oder religiösen Gründen dieser Verantwortung entzieht. Wir wollen sie daher dazu verpflichten, Schwangerschaftsabbrüche anbieten zu müssen. Unberührt davon bleibt natürlich das Recht eines einzelnen Arztes, die Behandlung eines Patienten abzulehnen, wenn es sich nicht um einen Notfall handelt.
Als weitere Ursache für das Versorgungsproblem in Deutschland sehen wir radikale Abtreibungsgegner an, die einerseits Fehlinformationen über Schwangerschaftsabbrüche verbreiten, andererseits Ärzte und Schwangere belästigen, schikanieren und teilweise sogar bedrohen. Dies schafft ein Klima, in dem Ärzte ganz genau abwägen, ob sie in der eigenen Praxis Schwangerschaftsabbrüche durchführen wollen. Aus diesem Grund wollen wir Fehlinformation und Fake News über Schwangerschaftsabbrüche mit Aufklärungskampagnen begegnen sowie Demonstrationen gegen Schwangerschaftsabbrüche unmittelbar vor Kliniken, Praxen und Beratungsstellen verbieten. Diese stellen eine unzumutbare Belastung für diejenigen dar, die eine mitunter ohnehin schwierige Entscheidung treffen müssen, wie auch für die durchführenden medizinischen Teams.
Zusammenfassung unserer Forderungen
- Die Themen Sex und Verhütung sollen zu geeigneten Zeitpunkten in jeweils altersgerechter Weise als Teil des verpflichtenden Schulunterrichts thematisiert werden.
- Verhütungsmittel sollen als Kassenleistungen übernommen werden. Kondome und Schwangerschaftstests sollen niederschwellig und kostenfrei zur Verfügung gestellt werden.
- Der Schwangerschaftsabbruch soll nach dem Vorbild Kanadas wie jede andere medizinische Behandlung reguliert werden. Eine festgelegte Frist entfällt dadurch und ermöglicht so die individuelle Betrachtung jedes einzelnen Falls.
- Wir sprechen uns neben der medizinischen Aufklärung über den Eingriff für eine Beratungspflicht aus, in der ergebnisoffen, neutral und sachlich über Alternativen zum Schwangerschaftsabbruch informiert wird. Zwischen dieser Beratung und dem Abbruch soll es keine Wartefrist mehr geben.
- Der aufklärungsfeindliche § 219a StGB soll ersatzlos gestrichen werden.
- Um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, wollen wir telemedizinische Abbrüche ermöglichen, Kliniken dazu verpflichten, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen und Demonstrationen von Abtreibungsgegnern vor Arztpraxen, Beratungsstellen und Kliniken verbieten.
Der sog. Pearl-Index gibt die Anzahl an Schwangerschaften pro 100 Frauen an, die innerhalb eines Jahres bei der Anwendung eines bestimmten Verhütungsmittels auftreten. Selbst die Sterilisation erreicht nicht den Pearl-Index 0, sondern lediglich 0,1-0,3 [1].
[1] Wikipedia. Pearl-Index, abgerufen Mai 2022.
Von den heterosexuell aktiven und fertilen Frauen, die kein Kind wollen, verhüten etwa 96% [1]. Das ist absolut betrachtet zwar ein großer Anteil, auf die etwa 4 % der Frauen, die nicht verhüten, entfallen jedoch ca. die Hälfte der unbeabsichtigten Schwangerschaften [2], die dementsprechend durch konsequente Verhütung weitgehend verhindert werden könnten.
[1] Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2016. Familienplanung im Lebenslauf von Frauen – Schwerpunkt: Ungewollte Schwangerschaften, S. 124.
[2] Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2016. Familienplanung im Lebenslauf von Frauen – Schwerpunkt: Ungewollte Schwangerschaften, S. 199.
Der sog. Pearl-Index gibt die Anzahl an Schwangerschaften pro 100 Frauen an, die innerhalb eines Jahres bei der Anwendung eines bestimmten Verhütungsmittels auftreten. Je niedriger der Pearl-Index, desto sicherer das Verhütungsmittel [1]. Der Pearl-Index der “Antibabypille”, also hormoneller weiblicher Kontrazeption, liegt etwa zwischen 0,1 und 2,2 (je nach Präparat, Studie und Anwendung) [1,2]. Wenn wir zum Zweck einer simplen Beispielrechnung vom Wert 1 ausgehen, bedeutet das, dass von 100 Frauen, die ein Jahr lang mit der Pille verhüten, statistisch gesehen eine Frau trotzdem schwanger wird. Wenn es jedoch eine (aktuell noch hypothetische) Möglichkeit gäbe, dass auch die männlichen Geschlechtspartner dieser Frauen hormonell verhüten könnten, ebenfalls mit einem Pearl-Index von 1, dann ergäbe sich für die gemeinsame Verhütung ein Pearl-Index, und damit das Risiko, trotz doppelter Verhütung schwanger zu werden, von nur noch 0,01 (pro Jahr). Damit würde also bei 10.000 Paaren, die über ein Jahr lang doppelt verhüten, nur noch eine ungewollte Schwangerschaft resultieren, was einer Risikoreduktion um zwei Größenordnungen (Faktor 100) entspräche.
Das ist natürlich nur eine theoretische Überlegung. In der Praxis müsste ein männliches Verhütungsmittel möglichst einfach in der Anwendung sein, sodass die doppelte Verhütung auch tatsächlich umgesetzt wird. Auch jetzt wäre eine doppelte Verhütung, beispielsweise mit Pille plus Kondom möglich, wird jedoch in der “frauen leben 3”-Studie – je nach Subpopulation, die betrachtet wird – nur von 1-15 % der Frauen verwendet. [3]
[1] Wikipedia. Pearl-Index, abgerufen Mai 2022.
[2] Mansour et al. 2010. Efficacy of contraceptive methods: A review of the literature. The European Journal of Contraception and Reproductive Health Care.
[3] Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2016. Familienplanung im Lebenslauf von Frauen – Schwerpunkt: Ungewollte Schwangerschaften, S. 117-119.
Gesetzestext des § 218 [1]:
“(1) Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Handlungen, deren Wirkung vor Abschluß der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter eintritt, gelten nicht als Schwangerschaftsabbruch im Sinne dieses Gesetzes.
(2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter
- gegen den Willen der Schwangeren handelt oder
- leichtfertig die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung der Schwangeren verursacht.
(3) Begeht die Schwangere die Tat, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe.
(4) Der Versuch ist strafbar. Die Schwangere wird nicht wegen Versuchs bestraft.”
[1] § 218 StGB. Schwangerschaftsabbruch. abgerufen November 2021.
Die Beratungsregel wird in § 218a StGB Absatz 1 geregelt [1]:
“(1) Der Tatbestand des § 218 ist nicht verwirklicht, wenn
- die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch verlangt und dem Arzt durch eine Bescheinigung nach § 219 Abs. 2 Satz 2 nachgewiesen hat, daß sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen,
- der Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt vorgenommen wird und
- seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind.”
Die maternale Indikation wird im § 218a StGB Absatz 2 geregelt [2]:
“(2) Der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig, wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann.”
Die kriminologische Indikation wird im § 218a StGB Absatz 3 geregelt [3]:
“(3) Die Voraussetzungen des Absatzes 2 gelten bei einem Schwangerschaftsabbruch, der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommen wird, auch als erfüllt, wenn nach ärztlicher Erkenntnis an der Schwangeren eine rechtswidrige Tat nach den §§ 176 bis 178 des Strafgesetzbuches begangen worden ist, dringende Gründe für die Annahme sprechen, daß die Schwangerschaft auf der Tat beruht, und seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind.”
Bei der Frist muss bedacht werden, dass im Gesetz von 12 Wochen nach Empfängnis gesprochen wird, in der Geburtshilfe jedoch von Schwangerschaftswochen geredet wird, die seit der letzten Menstruation berechnet werden. Da die Dauer zwischen Menstruation und Empfängnis (etwa) zwei Wochen beträgt, bedeutet die 12-wöchige Frist des Gesetzestextes eine Frist bis spätestens zur vollendeten 14. Schwangerschaftswoche [4].
[1] § 218a Abs. 1 StGB. Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs, abgerufen November 2021.
[2] § 218a Abs. 2 StGB. Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs, abgerufen November 2021.
[3] § 218a Abs. 3 StGB. Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs, abgerufen November 2021.
[4] Doccheck. Schwangerschaftswoche, abgerufen Dezember 2021.
Von den 99.948 Schwangerschaftsabbrüchen im Jahr 2020 wurden 96.110 (96 %) im Rahmen der Beratungsregel durchgeführt. Die restlichen Abbrüche waren fast ausschließlich durch eine maternale Indikation bedingt (3.809; 4 %). Aufgrund der kriminologischen Indikation wurden nur 29 (0,03 %) Abbrüche durchgeführt [1].
[1] Statistisches Bundesamt. Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland nach rechtlicher Begründung, abgerufen November 2021.
§ 219 StGB Absatz 1 (markiert ist die zitierte Stelle) [1]:
“(1) Die Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens. Sie hat sich von dem Bemühen leiten zu lassen, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen; sie soll ihr helfen, eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen. Dabei muß der Frau bewußt sein, daß das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat und daß deshalb nach der Rechtsordnung ein Schwangerschaftsabbruch nur in Ausnahmesituationen in Betracht kommen kann, wenn der Frau durch das Austragen des Kindes eine Belastung erwächst, die so schwer und außergewöhnlich ist, daß sie die zumutbare Opfergrenze übersteigt. Die Beratung soll durch Rat und Hilfe dazu beitragen, die in Zusammenhang mit der Schwangerschaft bestehende Konfliktlage zu bewältigen und einer Notlage abzuhelfen. Das Nähere regelt das Schwangerschaftskonfliktgesetz.”
§ 5 SchKG Absatz 1 (markiert sind die zitierten Stellen) [2]:
“(1) Die nach § 219 des Strafgesetzbuches notwendige Beratung ist ergebnisoffen zu führen. Sie geht von der Verantwortung der Frau aus. Die Beratung soll ermutigen und Verständnis wecken, nicht belehren oder bevormunden. Die Schwangerschaftskonfliktberatung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens.”
[1] § 219 StGB Abs. 1. Beratung der Schwangeren in einer Not- und Konfliktlage, abgerufen November 2021.
[2] § 5 SchKG Abs. 1. Inhalt der Schwangerschaftskonfliktberatung, abgerufen November 2021.
§ 219a StGB (markiert ist Absatz 4, der erst mit der Revision im März 2019 hinzugefügt wurde) [1]:
“(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten eines Inhalts (§ 11 Absatz 3) seines Vermögensvorteils wegen oder in grob anstößiger Weise
- eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs oder
- Mittel, Gegenstände oder Verfahren, die zum Abbruch der Schwangerschaft geeignet sind, unter Hinweis auf diese Eignung
anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts bekanntgibt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Absatz 1 Nr. 1 gilt nicht, wenn Ärzte oder auf Grund Gesetzes anerkannte Beratungsstellen darüber unterrichtet werden, welche Ärzte, Krankenhäuser oder Einrichtungen bereit sind, einen Schwangerschaftsabbruch unter den Voraussetzungen des § 218a Abs. 1 bis 3 vorzunehmen.
(3) Absatz 1 Nr. 2 gilt nicht, wenn die Tat gegenüber Ärzten oder Personen, die zum Handel mit den in Absatz 1 Nr. 2 erwähnten Mitteln oder Gegenständen befugt sind, oder durch eine Veröffentlichung in ärztlichen oder pharmazeutischen Fachblättern begangen wird.
(4) Absatz 1 gilt nicht, wenn Ärzte, Krankenhäuser oder Einrichtungen
- auf die Tatsache hinweisen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche unter den Voraussetzungen des § 218a Absatz 1 bis 3 vornehmen, oder
- auf Informationen einer insoweit zuständigen Bundes- oder Landesbehörde, einer Beratungsstelle nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz oder einer Ärztekammer über einen Schwangerschaftsabbruch hinweisen.”
Ausgang für die Überarbeitung des § 219a war die Verurteilung der Ärztin Kristina Hänel im November 2017. Sie hatte auf ihrer Webseite Informationen über den Ablauf eines Schwangerschaftsabbruchs in ihrer Praxis und die unterschiedlichen Methoden, mit denen ein Schwangerschaftsabbruch durchgeführt werden kann, veröffentlicht (zu finden im Urteil unter [3]). Nach § 219a gelten diese Informationen als Werbung, und Frau Hänel wurde vom Amtsgericht Gießen verurteilt. [2] Aber auch nach der Revision durch den Bundestag im März 2019 war die Veröffentlichung dieser Informationen immer noch rechtswidrig. [3]
[1] § 219a StGB. Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft, abgerufen November 2021.
[2] Urteil des Amtsgerichts Gießen vom 24.11.2017, abgerufen November 2021.
[3] Urteil des Landgerichts Gießen vom 12.12.2019, abgerufen November 2021.
“Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft” ist schlicht die Bezeichnung des Paragrafen [1].
[1] § 219a StGB. Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft, abgerufen November 2021.
Diese Regelung ist in Kanada historisch gewachsen. Vor 1988 gab es eine gesetzliche Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen, die u.a. beinhaltete, dass nur Krankenhäuser diese vornehmen durften. Dr. Henry Morgenthaler eröffnete jedoch mehrere Abtreibungskliniken, und im resultierenden Rechtsstreit deklarierte der kanadische Supreme Court 1988 im historischen Fall R v Morgenthaler das Abtreibungsgesetz für nichtig. Kurz darauf wurde zwar von der kanadischen Regierung ein neuer Gesetzesvorschlag eingereicht, dem zwar im Unterhaus zugestimmt wurde, der im Senat jedoch aufgrund einer Stimmgleichheit nicht verabschiedet wurde. Seither hat keine weitere kanadische Regierung mehr versucht, einen Gesetzesvorschlag zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs vorzubringen und mehr als dreißig Vorschläge einzelner Abgeordneter blieben bis heute erfolglos [1].
[1] Shaw et Norman, 2020. When there are no abortion laws: A case study of Canada. Best Practice & Research Clinical Obstetrics & Gynaecology.
Die anderen drei Länder neben Kanada, die keine gesetzliche Regelung zum Schwangerschaftsabbruch haben, sind China, Vietnam und Nordkorea [1,2].
[1] Angelina Baglini, 2014. Gestational Limits on Abortion in the United States Compared to International Norms. Charlotte Lozier Institute.
[2] Guttmacher Institute, 2017. Abortion worldwide, Seite 16.
Seit Mitte der 1990er-Jahre sinkt die Rate an Schwangerschaftsabbrüchen in Kanada kontinuierlich, von 16 Schwangerschaftsabbrüchen pro 1.000 Frauen im Alter von 15 – 44 pro Jahr auf 11,6 pro 1.000 Frauen pro Jahr im Jahr 2014 [1]. Dies liegt deutlich unter dem Durchschnitt für entwickelte Länder, der von 2010 bis 2014 bei 27 Schwangerschaftsabbrüchen pro 1000 Frauen im Alter von 15 – 44 pro Jahr lag [2]. In Deutschland fanden sich 2016 17,2 Millionen Frauen im gebärfähigen Alter [3, S. 75] und 98.721 Schwangerschaftsabbrüche [4], also etwa 5,7 Abbrüche pro 1.000 Frauen. Damit liegt diese Zahl bei etwa der Hälfte des kanadischen Werts.
[1] Norman et Downie, 2017. Abortion care in Canada is decided between a woman and her doctor, without recourse to criminal law. BMJ.
[2] Guttmacher Institute, 2017. Abortion worldwide, Seite 51.
[3] Pötzsch, 2018. Aktueller Geburtenansteig und seine Potenziale. Statistisches Bundesamt.
[4] Statistisches Bundesamt. Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland nach rechtlicher Begründung, abgerufen November 2021.
Zum Beleg der Aussage siehe [1]. Zusätzlich dazu werden nur 0,6 % der Schwangerschaftsabbrüche nach Schwangerschaftswoche 20 durchgeführt. Die Gründe hierfür sind überwiegend Fehlbildungen des Fötus. Dieser Anteil ist seit der Entkriminalisierung 1988 stabil [1].
[1] Shaw et Norman, 2020. When there are no abortion laws: A case study of Canada. Best Practice & Research Clinical Obstetrics & Gynaecology.
Die National Abortion Federation, die sich selbst als Fachverband der Anbieter von Schwangerschaftsabbrüchen in Kanada, den USA, Kolumbien und Mexiko bezeichnet, gibt jährlich eine überarbeitete Leitlinie zum Schwangerschaftsabbruch heraus [1]. Die Society of Obstetricians and Gynaecologists of Canada hat Leitlinien zum “normalen” Schwangerschaftsabbruch [2] und zum telemedizinischen Abbruch [3] veröffentlicht.
[1] National Abortion Federation, 2022. Quality / Standards, abgerufen März 2022.
[2] Davis, 2006. Induced Abortion Guidelines. Journal of Obstetrics and Gynaecology Canada.
[3] Guilbert et al. Canadian Protocol for the provision of medical abortion via telemedicine. Society of Obstetricians and Gynaecologists of Canada.
Für viele Länder, in denen Schwangerschaftsabbrüche erlaubt sind, gibt es offizielle Statistiken über deren Anzahl. Auf die Inzidenz von Schwangerschaftsabbrüchen in Ländern mit restriktiver Gesetzgebung muss jedoch durch unterschiedliche indirekte Methoden (z. B. repräsentative Befragungen) geschlossen werden. Zwischen den Ländern mit restriktiver und liberaler Gesetzgebung zeigt sich mit dieser Datengrundlage kein wesentlicher Unterschied in der Anzahl durchgeführter Abbrüche [1, S. 51] [2] [3]:
[1] Guttmacher Institute, 2017. Abortion worldwide, Seite 51.
[2] WHO, 2015. Safe abortion: Technical & policy guidance for health systems.
[3] Guttmacher Institute, 2020. Unintended Pregnancy and Abortion Worldwide, Fact Sheet.
Das Risiko eines Schwangerschaftsabbruchs wird in drei Kategorien unterteilt. Dazu werden zwei Merkmale betrachtet.
1. Wird der Eingriff mit einer sicheren Methode (z. B. mittels Mifepriston plus Misoprostol) durchgeführt?
2. Wird der Eingriff von einer Fachkraft durchgeführt?
Werden beide Merkmale erfüllt, gilt ein Schwangerschaftsabbruch als “sicher”; wird nur ein Merkmal erfüllt, als “weniger sicher”; wird kein Merkmal erfüllt, als “unsicher” [1]. Unterteilt man die einzelnen Länder danach, wie restriktiv ihre Gesetzgebung in Bezug auf Schwangerschaftsabbrüche ist, zeigt sich eine klare Korrelation: Mit einer liberalen Gesetzgebung nimmt der Anteil der sicher durchgeführten Eingriffe deutlich zu. [1]
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Der Schwangerschaftsabbruch erfolgt in armen Ländern mit restriktiver Gesetzgebung oft mittels Misoprostol allein. Der Grund dafür ist, dass Mifepriston nur zum Schwangerschaftsabbruch verwendet wird und dementsprechend restriktiv reguliert ist, wenn Schwangerschaftsabbrüche in einem Land verboten sind. Misoprostol hingegen ist als Magenschutztablette in diesen Ländern meistens trotzdem erhältlich, jedoch nur in 75 – 90 % der Fälle allein ausreichend, um die Frucht komplett auszustoßen. Für die Komplikationen eines inkompletten Abbruchs steht oft keine ausreichende Gesundheitsversorgung zur Verfügung [2]. Schätzungen aus Ländern mit hochrestriktiver Gesetzgebung geben an, dass etwa 40 % aller Schwangerschaftsabbrüche dort zu einer Komplikation führen, die in einer medizinischen Einrichtung behandelt werden müssen [3].
Dabei können Schwangerschaftsabbrüche, korrekt durchgeführt, sehr sicher sein. Betrachten wir die USA als Beispiel, dann ist die Letalität eines Schwangerschaftsabbruchs dort mit < 1 Todesfall pro 100.000 legal durchgeführten Abbrüchen nur sehr gering und damit deutlich niedriger als beispielsweise das Risiko, bei einer Geburt zu versterben (8,8 maternale Tode pro 100.000 Lebendgeburten, ebenfalls in den USA) [3]. Weltweit gesehen beträgt die Letalität jedoch ca. 60 Todesfälle pro 100.000 Abbrüche (gemittelt über die Jahre 2010 – 2014). 1990 – 1994 betrug sie sogar noch ca. 110 Todesfälle/100.000 Abbrüche [3]. Damit machen Schwangerschaftsabbrüche weltweit ca. 8 % der schwangerschafts- und geburtsassoziierten Todesfälle aus [4].
Darüber hinaus korreliert das Risiko einer Komplikation mit der Schwangerschaftswoche, in der ein Abbruch durchgeführt wird [3]. Bei einer schlechten Versorgung, bei der man nur spät einen Termin zum Abbruch bekommt, steigt daher auch automatisch das Risiko.
Als Beispiel für einen drastischen Abfall dieser Todesfälle durch eine Liberalisierung des Eingriffs dient Rumänien. Nach dem Fall der Ceaușescu-Diktatur 1989 und mit einer postwendenden Liberalisierung des Abtreibungsrechts sank die Letalität eines Schwangerschaftsabbruchs deutlich ab [5]:
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[1] Guttmacher Institute, 2017. Abortion worldwide, Seite 10-12.
[2] Guttmacher Institute, 2017. Abortion worldwide, Seite 28.
[3] Guttmacher Institute, 2017. Abortion worldwide, Seite 32-33.
[4] Say et al., 2014. Global causes of maternal death: a WHO systematic analysis. The Lancet Global Health.
[5] Johnson et al., 2004. A Strategic Assessment of Abortion and Contraception in Romania. Reproductive Health Matters.
Typischerweise wird auf das Alter einer Schwangerschaft über die letzte Menstruation zurückgeschlossen (s. (5)). Diese Methode ist aber bei einem unregelmäßigen Zyklus ungenau und ein unregelmäßiger Zyklus ist keine Seltenheit [1]. Neben der letzten Menstruation kann das Alter des Fetus sonografisch ermittelt werden. Die genauste Methode ist dabei die Messung der Scheitel-Steiß-Länge zwischen der 6. und 12. Schwangerschaftswoche. Nach der 12. Schwangerschaftswoche kann die Scheitel-Fersen-Länge bestimmt werden, die jedoch aufgrund unterschiedlicher Gelenkstellungen eine deutlich größere Unschärfe aufweist [2]. Wird eine Schwangerschaft erst spät bemerkt, ist die Datierung dementsprechend ungenau.
[1] National Institute of Health. What are menstrual irregularities?, abgerufen April 2022.
[2] Wikipedia. Schwangerschaftsdauer, abgerufen April 2022.
In einer Studie mit 667 Frauen aus den USA waren nach 5 Jahren 99,0 % der Meinung, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Die häufigste Emotion in Bezug auf den Schwangerschaftsabbruch war Erleichterung [1]. In einer anderen Studie aus den USA mit 856 Frauen zeigte sich akut eine größere psychische Belastung bei den Frauen, welche die Frist für einen Schwangerschaftsabbruch kurz verpasst hatten, verglichen mit Frauen, die noch knapp innerhalb der Frist lagen. Langfristig zeigten sich Schwangerschaftsabbrüche auch hier nicht als psychisch belastend [2]. Eine Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2008 hat in den bis dahin veröffentlichten Studien den klaren Trend festgestellt, dass methodisch hochwertige Studien keine oder kaum Unterschiede in der psychischen Gesundheit zwischen Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen ließen und der Kontrollgruppe finden [3].
[1] Rocca et al., 2021. Emotions and decision rightness over five years following an abortion: An examination of decision difficulty and abortion stigma. Social Science & Medicine.
[2] Biggs et al., 2017. Women’s Mental Health and Well-being 5 Years After Receiving or Being Denied an Abortion: A Prospective, Longitudinal Cohort Study. JAMA Psychiatry.
[3] Charles et al., 2008. Abortion and long-term mental health outcomes – a systematic review of the evidence. Contraception.
In der Medizin darf keine Maßnahme gegen den freien Willen des Patienten vorgenommen werden. Ein medizinischer Eingriff erfordert nach § 630d BGB immer die Einwilligung des Patienten [1]. Ist ein Patient nicht einwilligungsfähig, gilt die Patientenverfügung, sofern sie für die aktuelle Situation zutrifft. Ist das nicht der Fall, muss der mutmaßliche Wille des Patienten ermittelt werden [2], z.B. durch die Befragung von Angehörigen oder des Betreuers (sofern vorhanden).
[1] § 630d BGB. Einwilligung, abgerufen April 2022.
[2] § 1901a BGB Abs. 1. Patientenverfügung, abgerufen April 2022.
Die Aufklärungspflicht wird in § 630e BGB geregelt: “Der Behandelnde ist verpflichtet, den Patienten über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufzuklären” [1].
[1] § 630e BGB. Aufklärungspflichten, abgerufen April 2022.
Diese Überprüfung ist bereits aktuell im Schwangerschaftskonfliktgesetz in § 10 Absatz 3 geregelt (fett markiert) [1]:
“(1) Die Beratungsstellen sind verpflichtet, die ihrer Beratungstätigkeit zugrundeliegenden Maßstäbe und die dabei gesammelten Erfahrungen jährlich in einem schriftlichen Bericht niederzulegen.
(2) Als Grundlage für den schriftlichen Bericht nach Absatz 1 hat die beratende Person über jedes Beratungsgespräch eine Aufzeichnung zu fertigen. Diese darf keine Rückschlüsse auf die Identität der Schwangeren und der zum Beratungsgespräch hinzugezogenen weiteren Personen ermöglichen. Sie hält den wesentlichen Inhalt der Beratung und angebotene Hilfsmaßnahmen fest.
(3) Die zuständige Behörde hat mindestens im Abstand von drei Jahren zu überprüfen, ob die Voraussetzungen für die Anerkennung nach § 9 noch vorliegen. Sie kann sich zu diesem Zweck die Berichte nach Absatz 1 vorlegen lassen und Einsicht in die nach Absatz 2 anzufertigenden Aufzeichnungen nehmen. Liegt eine der Voraussetzungen des § 9 nicht mehr vor, ist die Anerkennung zu widerrufen.”
[1] § 10 SchKG. Berichtspflicht und Überprüfung der Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen, abgerufen April 2022.
Geregelt in § 630e BGB (relevanter Abschnitt fett markiert): [1]
“(1) Der Behandelnde ist verpflichtet, den Patienten über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufzuklären. Dazu gehören insbesondere Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken der Maßnahme sowie ihre Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Diagnose oder die Therapie. Bei der Aufklärung ist auch auf Alternativen zur Maßnahme hinzuweisen, wenn mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Methoden zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können.
(2) Die Aufklärung muss
- mündlich durch den Behandelnden oder durch eine Person erfolgen, die über die zur Durchführung der Maßnahme notwendige Ausbildung verfügt; ergänzend kann auch auf Unterlagen Bezug genommen werden, die der Patient in Textform erhält,
- so rechtzeitig erfolgen, dass der Patient seine Entscheidung über die Einwilligung wohlüberlegt treffen kann,
- für den Patienten verständlich sein.
Dem Patienten sind Abschriften von Unterlagen, die er im Zusammenhang mit der Aufklärung oder Einwilligung unterzeichnet hat, auszuhändigen.
(3) Der Aufklärung des Patienten bedarf es nicht, soweit diese ausnahmsweise aufgrund besonderer Umstände entbehrlich ist, insbesondere wenn die Maßnahme unaufschiebbar ist oder der Patient auf die Aufklärung ausdrücklich verzichtet hat.
(4) Ist nach § 630d Absatz 1 Satz 2 die Einwilligung eines hierzu Berechtigten einzuholen, ist dieser nach Maßgabe der Absätze 1 bis 3 aufzuklären.
(5) Im Fall des § 630d Absatz 1 Satz 2 sind die wesentlichen Umstände nach Absatz 1 auch dem Patienten entsprechend seinem Verständnis zu erläutern, soweit dieser aufgrund seines Entwicklungsstandes und seiner Verständnismöglichkeiten in der Lage ist, die Erläuterung aufzunehmen, und soweit dies seinem Wohl nicht zuwiderläuft. Absatz 3 gilt entsprechend.”
Absatz 2 Satz 2 wird dabei nach Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs so interpretiert, dass vor größeren operativen Eingriffen mindestens 24 Stunden vor dem Eingriff aufgeklärt werden muss. Bei ambulanten Eingriffen ist eine Aufklärung am Tag des Eingriffs möglich. [2]
[1] § 630e BGB. Aufklärungspflichten, abgerufen November 2021.
[2] Ärzteblatt, 21.04.2009. Aufklärung und Einwilligung des Patienten: Nach Maßgaben aktueller höchstrichterlicher und oberlandesgerichtlicher Rechtsprechung, abgerufen November 2021.
Von 2003 bis 2020 ist die Anzahl der Kliniken und Praxen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, um fast die Hälfte zurückgegangen – von 2050 auf 1109 [1,2,5]. Ein einzelner Arzt in München führt fast ein Drittel aller Schwangerschaftsabbrüche in Bayern durch – mit 75 Jahren, da er nach eigenen Angaben keinen Nachfolger findet, der Abbrüche durchführen will [2]. Fast zwei Drittel aller bayrischen Schwangerschaftsabbrüche werden in München durchgeführt [3], obwohl dort nur etwa 12 % der bayrischen Bevölkerung wohnt [4,5]. Daraus lässt sich ein Mangel an Ärzten, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, zumindest auf dem bayrischen Land ableiten. Es gibt jedoch auch starke regionale Unterschiede. Beispielsweise sind die Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Berlin gut versorgt [6].
Einen Mangel sehen auch Die Grünen [7], Cecilie Helling, die Bundeskoordinatorin der AG Sexualität und Prävention der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd) [8] und die Vorsitzende von Pro Familia, Dörte Frank-Boegner [9]. Von den öffentlichen Krankenhäusern mit Gynäkologie, die also technisch die Möglichkeit haben, Abbrüche durchzuführen, geben weniger als 40% an, auch Abbrüche nach der Beratungsregel durchzuführen [6].
Insgesamt ist die Datenlage allerdings lückenhaft und lässt keine eindeutigen Rückschlüsse zu [10]. Wir leiten jedoch aus den genannten Daten einen Mangel ab.
[1] Deutschlandfunk Hintergrund, 29.07.2021. Warum immer weniger Ärzte Abtreibungen durchführen, abgerufen September 2021.
[2] Stern, 06.07.2021. Er könnte längst in Rente sein, doch das wäre für viele Frauen eine Katastrophe, abgerufen Oktober 2021.
[3] Süddeutsche Zeitung, 23.11.2020. Immer weniger Ärzte nehmen Schwangerschaftsabbrüche vor, abgerufen Oktober 2021.
[4] Wikpedia. Bayern, abgerufen Oktober 2021.
[5] Wikipedia. München, abgerufen Oktober 2021.
[6] Correctiv, 03.03.2022. Welche öffentlichen Kliniken keine Abbrüche durchführen, abgerufen April 2022.
[7] Der Spiegel, 09.05.2021. Grüne pochen auf flächendeckende Versorgung bei Schwangerschaftsabbrüchen, abgerufen Oktober 2021.
[8] Ärzteblatt, 15.07.2020. Schwangerschaftsabbrüche: Nachwuchsmangel ist nicht das Grundproblem, abgerufen Oktober 2021.
[9] Neue Westfälische, 20.09.2021. Nazivergleiche und Drohungen: Abtreibungsgegner werden radikaler, abgerufen April 2022.
[10] mdr, 14.02.22. Motive für Schwangerschaftsabbrüche gut erforscht, Versorgungslage nicht, abgerufen Mai 2022.
Zum Versorgungsproblem, das zu langen Anreise- und Wartezeiten führt, siehe Eintrag (23). Ein Abbruch in einer späteren Phase der Schwangerschaft führt häufiger zu Komplikationen [1], wobei der Eingriff insgesamt trotzdem sehr sicher bleibt – siehe auch (15). Bedenkt man den großen Unterschied in der Invasivität des Eingriffs in einem frühen und einem späten Stadium der Schwangerschaft, dann liegt es auch nahe, dass die psychische Belastung für die Schwangere und das medizinische Personal auch deutlich mit der Schwangerschaftsdauer ansteigt. Wohingegen ein medikamentöser Abbruch einen vergleichsweise einfachen Eingriff darstellt, kann ein später Abbruch z.B. dadurch durchgeführt werden, dass der Fetus zunächst mittels Injektion in das Herz getötet wird und anschließend die Geburt künstlich eingeleitet wird, um so den Fetus tot zu gebären [2].
[1] Kapp et Lohr, 2020. Modern methods to induce abortion – safety, efficacy and choice, S. 38. Best Practice & Research Clinical Obstetrics and Gynaecology.
[2] Paradisi. Wissenswertes zur Spätabtreibung, abgerufen Mai 2022.
Lediglich in der Approbationsordnung für Ärzte werden auch “medizinische […] Aspekte” des Schwangerschaftsabbruchs als Prüfungsstoff benannt [1]. Wirklich in der Lehre umgesetzt wird dieser Auftrag unserer Auffassung nach aber selten. Dazu werden im Folgenden einige Beispiele genannt, wobei ein genauer Beweis nicht erbracht werden kann, da jede Universität (und jeder Dozent) eigene Vorlesungsinhalte festlegt.
Das Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP) legt die Prüfungsfragen für das erste und zweite Staatsexamen des Medizinstudiums fest. Im aktuellen Gegenstandskatalog [2] findet sich nur ein einziger Verweis auf den Schwangerschaftsabbruch. Dieser findet sich im Absatz, der Beispiele auflistet, bei denen die angehenden Mediziner den rechtlichen Rahmen kennen sollen. Dort steht er zwischen der Tötung auf Verlangen und der fahrlässigen Tötung bei Behandlungsfehlern. Wohingegen die Studenten beispielsweise mit “Komplikationen im Zusammenhang mit künstlicher Befruchtung” vertraut sein sollen, werden “Komplikationen im Zusammenhang mit medikamentösen und chirurgischen Schwangerschaftsabbrüchen” nicht erwähnt.
Ähnlich sieht es im Lernzielkatalog der Charité in Berlin aus, in denen die Studenten zwar “die rechtlichen und ethischen Aspekte eines Schwangerschaftsabbruchs” diskutieren und “die durch einen Schwangerschaftsabbruch entstehende psychische Belastung im gesellschaftlichen Kontext wahrnehmen” können sollen, aber in dem nicht steht, dass Studenten lernen sollen, welche Möglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs es eigentlich gibt [3].
Unterstützt wird diese Auffassung durch die Frauenärztin Viola Hellmann [4] und Doctors for Choice Germany, einem Zusammenschluss von (angehenden) Medizinern, die sich für eine Liberalisierung des deutschen Abtreibungsrechts einsetzen [5].
[1] Approbationsordnung für Ärzte, 2002. Prüfungsstoff für den Zweiten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung, Anlage 15. Abgerufen November 2021.
[2] IMPP. Gegenstandskatalog für den schriftlichen Teil des Zweiten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung (IMPP-GK2), gültig ab Frühjahr 2022. Abgerufen November 2021.
[3] Charité. Lernzielkatalog, abgerufen November 2021.
[4] MDR, 17.09.2021. Wohin der Druck durch Abtreibungsgegner führt, abgerufen November 2021.
[5] Doctors for Choice Germany. Unsere Forderungen, abgerufen Dezember 2021.
Als Beispiel kann hier Flensburg genannt werden. Hier gibt es aktuell noch zwei Krankenhäuser: Ein evangelisch geleitetes, das auch Schwangerschaftsabbrüche durchführt, und ein katholisches, das sie strikt ablehnt. Beide Kliniken wollen nun zu einem ökumenischen Krankenhaus verschmelzen. Dort werden dann jedoch – auf Beharren der katholischen Vertretung – keine Schwangerschaftsabbrüche mehr durchgeführt. So wird aus religiösen Gründen die medizinische Versorgung der Region Flensburg, zumindest auf dem Gebiet der Schwangerschaftsabbrüche, deutlich eingeschränkt [1,2].
“Christliche und der Kirche verbundene Krankenhäuser führen in der Regel keine Schwangerschaftsabbrüche durch” [3]. Selbst Krankenhäuser in öffentlicher Trägerschaft berufen sich teilweise auf das christliche Menschenbild, als Begründung, wieso sie keine Abbrüche nach der Beratungsregel vornehmen [3].
[1] TAZ, 23.10. 2020. Schwangerschaftsabbruch in Flensburg: Stadt sucht Abtreibungs-Arzt, abgerufen November 2021.
[2] NDR, 11.05.2021. Immer weniger Ärzt:innen bieten Schwangerschaftsabbrüche an, abgerufen November 2021.
[3] Correctiv, 03.03.2022. Welche öffentlichen Kliniken keine Abbrüche durchführen, abgerufen April 2022.
Dies ist auch klar im Schwangerschaftskonfliktgesetz festgehalten. Dort heißt es in § 12:
“(1) Niemand ist verpflichtet, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken.
(2) Absatz 1 gilt nicht, wenn die Mitwirkung notwendig ist, um von der Frau eine anders nicht abwendbare Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung abzuwenden” [1].
[1] § 12 SchKG. Weigerung, abgerufen November 2021.
Als ein besonders drastisches Beispiel kann Klaus Günter Annen dienen, der als Katholik und Abtreibungsgegner mit rechtsradikalen Kontakten bundesweite Proteste organisiert und gegen mehr als 400 Mediziner Strafanzeige wegen mutmaßlicher Verletzung von § 219a erstattet hat. Von ihm stammen die Webseiten Babycaust.de und Abtreiber.com [1]. Auf Letzterer werden mitunter detaillierte biografische Daten von Ärzten gelistet, welche Schwangerschaftsabbrüche durchführen, und sie als “Auftragsmörder” bezeichnet [6], was in diesem Kontext bereits bedrohlichen Charakter hat. Auf seinen Webseiten stellt er regelhaft Vergleiche zwischen Schwangerschaftsabbrüchen und Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus an.
Ein gegenüber Schwangerschaftsabbrüche durchführenden Ärzten feindliches Klima sehen auch Christian Albring, Präsident des Bundesverbandes der Frauenärzte und Dörte Frank-Boegner, Bundesvorsitzende von Pro Familia [6].
In Extremfällen sind Abtreibungsgegner auch gewaltbereit. Dabei wurden in den USA und Kanada bereits Gynäkologen ermordet und sogar Bombenattentate verübt [2,7]. Eine Übersicht bietet Wikipedia [8]. In Deutschland ist es unseres Wissens nach bisher noch nicht zu solchen extremen Fällen gekommen.
Kristina Hänel, als bekanntestes deutsches Gesicht der Pro-Choice-Bewegung, sagte in einem Spiegel-Interview folgendes: “Und ich bin ständig darauf eingestellt, angegriffen zu werden. Bis heute ist die Polizei dabei, wenn ich öffentlich auftrete. Bis heute erhalte ich Morddrohungen, habe immer wieder Plastikembryonen im Briefkasten, bekomme wütende Anrufe. Mein Partner sagt abends: “Zieh doch besser die Vorhänge zu, man kann dich von draußen sehen.” Ich werde mich nie daran gewöhnen.” [9]
Darüber hinaus gibt es zahlreiche Beispiele, bei denen anderweitig Fehlinformationen verbreitet werden, die Arbeit von Beratungsstellen gestört oder medizinisches Personal belästigt wird. Einige davon wollen wir im Folgenden beispielhaft festhalten:
- In Frankfurt demonstrieren regelmäßig radikale Abtreibungsgegner vor einer Beratungsstelle und beeinträchtigen so deren Arbeit [3],
- AfD und Christdemokraten demonstrieren gegen Abtreibungsklinik in Stuttgart [4],
- Alicia Baier, Vorstandsvorsitzende bei Doctors For Choice Germany, wurde aufgrund eines Interviews über Schwangerschaftsabbrüche angezeigt – auf Basis des überarbeiteten § 219a [5].
[1] Wikipedia. Klaus Günter Annen[, abgerufen Oktober 2021.
[2] National Abortion Federation. Incidents of Violence & disruption against abortion providers in the U.S. & Canada, 1977 – 2009. Abgerufen November 2021.
[3] Spiegel, 25.03.2019. Radikale Abtreibungsgegner belagern in Frankfurt für 40 Tage eine Beratungsstelle für Schwangere, abgerufen November 2021.
[4] Junge Freiheit, 17.11.2014. AfD und Christdemokraten demonstrieren gegen Abtreibungsklinik, abgerufen November 2021.
[5] Doctors For Choice, 01.09.21. Anzeige für Interviewteilnahme, abgerufen November 2021.
[6] Neue Westfälische, 20.09.2021. Nazivergleiche und Drohungen: Abtreibungsgegner werden radikaler, abgerufen April 2022.
[7] This Day In History, 2020. Doctor is killed by anti-abortion radical, abgerufen April 2022.
[8] Wikipedia. Anti-Abortion Violence, abgerufen April 2022.
[9] Der Spiegel, 2022. Ich wollte die Frauen nicht im Stich lassen, abgerufen April 2022.
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