Mit dem Grundgesetz bekam Deutschland nach den dunklen Jahren des Nationalsozialismus eine moderne und tragfähige Verfassung. Seine Bestimmungen zu demokratischen Prinzipien, Bürgerrechten und Rechtsstaatlichkeit sind derart progressiv, dass das Grundgesetz sogar als Vorbild für andere Verfassungen herangezogen wurde: Nicht nur im Europarecht finden sich starke Parallelen und teilweise sogar nahezu identische Formulierungen, unser Grundgesetz ist auch nach dem Kalten Krieg für viele ehemalige Ostblock-Staaten Vorbild geworden. Selbst bis nach Taiwan und Südamerika haben sich zentrale Teile der deutschen Verfassung und Rechtsprechung verbreitet – und das aus gutem Grund.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Mit diesem einfach klingenden, aber vielschichtigen Wert beginnt unsere Verfassung. Er wurde 1949 in Anbetracht des Massenmords der Nationalsozialisten und der Gräuel des Zweiten Weltkriegs nicht mehr als selbstverständlich genommen. Folgerichtig ist er als zentrales Ausgangsprinzip der deutschen Verfassung gleich zu Beginn verankert. Alles staatliche Handeln muss sich an diesem Prinzip ausrichten. Andere Verfassungen beginnen ähnlich, doch im Gegensatz zu ihnen schützt das Grundgesetz nicht nur die Würde deutscher Staatsbürger, sondern aller Menschen. Ein zutiefst humanistischer Gedanke.
Die Würde aller Menschen – auch bei der Fernmeldeaufklärung
Was das ganz konkret bedeutet, zeigt das kürzlich ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur „strategischen Fernmeldeaufklärung“ des Bundesnachrichtendienstes: Überall dort, wo der deutsche Staat handelt, muss er sich an deutsches Recht, an die deutsche Verfassung halten. Es ist also egal, ob der BND den E-Mail-Verkehr eines deutschen Staatsbürgers oder eines Angehörigen einer anderen Nation vorliegen hat, die Verfassung verpflichtet ihn, beide gleichermaßen zu behandeln und deren Rechte stets zu wahren.
Dieses Urteil ist gleich in mehrerlei Hinsicht von großer Tragweite. Zunächst verfestigt es die Rechtsauffassung, dass das Grundgesetz im Gegensatz zu anderen Verfassungen nicht nur seine Staatsbürger oder Menschen mit Aufenthaltstiteln innerhalb seines Staatsgebietes schützt, nein, es dehnt diesen Rechtsanspruch an das Handeln der deutschen Staatsorgane auf die gesamte Welt aus. Das Statement, das es damit setzt, ist fundamental und für alle sichtbar: Wir haben uns Grundwerte gesetzt, welche für uns unverrückbar sind und die wir nicht nur nach innen, sondern auch nach außen gegenüber jedem und jeder stets wahren wollen. Wir haben damit nicht nur Recht gesetzt, wir haben einen Anspruch an uns selbst formuliert. Ein hehres Ziel.
An diesen Idealen müssen wir uns messen lassen
Der wahre Wert eines solchen Ideals und Anspruchs zeigt sich stets dann, wenn es schwierig ist diesen einzuhalten. So kann man selbstverständlich einwenden, dass die Arbeit eines Nachrichtendienstes unter einem solchen „Umstand“ freilich schwer wird. Dass die wichtige Arbeit zum Schutze seiner Bürger stark eingeschränkt wird und dadurch vielleicht letzten Endes auch wichtige Informationen nicht gewonnen und so Leben nicht nur gefährdet, sondern vermutlich auch verloren gehen werden. Das alles ist vollkommen richtig und geht doch am Kern der Sache vorbei: Universelle Werte müssen ihre Gültigkeit nicht in Ergebnissen beweisen, sie sind Ergebnis in sich. Es sind ursächlich diese Werte, die uns und andere sowohl vor Totalitarismus, als auch Barbarei schützen. Wenn man sie also unter dem Versprechen des Schutzes vor Bedrohung aufgibt oder aufweicht, was bleibt dann noch?
Diesen Werten gerecht zu werden, ist alles andere als leicht, vielleicht sogar in ihrer Absolutheit unmöglich. Es liegt in der Natur der Sache, dass stets auch Fehler gemacht, falsche Wege beschritten, Regeln in Unkenntnis, anderer Ansicht, böswilliger Absicht oder einem sonstigen menschlichen Beweggrund missachtet werden. Menschen sind fehlbar. Aus diesem Grund haben wir uns vor 71 Jahren Regeln gegeben, die für so grundsätzlich erachtet wurden, dass sie das Mindestmaß und höchster Anspruch zugleich sind, um unser menschliches Zusammenleben zu regeln und uns vor Machtmissbrauch, Willkür und Terror zu schützen. Diese Schutzfunktion ist es, die jegliches staatliche Handeln begrenzt und über jeglicher parteipolitischen Auffassung steht.
Das ewige Ringen
In diesem Sinne ist das BND-Urteil somit auch eine Chance zu beweisen, aus welchem Holz unsere staatlichen Institutionen geschnitzt sind. Seit jeher sind Nachrichtendienste in gewisser Weise Fremdkörper demokratischer und rechtsstaatlicher Systeme, da es ihr Auftrag ist, stets mit einem Fuß im Schatten zu stehen. Das jedoch beißt sich mit der Auffassung von Transparenz und Kontrolle moderner Staaten. Würde man die (Geheim-)Dienste vollständig ins Licht der Öffentlichkeit stellen, könnten sie ihren Auftrag nicht erfüllen. Doch dass dieser Auftrag erfüllt werden muss, ist unabdingbar. Denn ein Rechtsstaat muss stets auch wehrhaft gegen seine Feinde sein und die Sicherheit seiner Bürger gewährleisten, denn ohne Staatsbürger gibt es auch keinen Rechtsstaat. Es ist also ein stetes Ringen zwischen Praktikabilität und Idealen, zwischen Erfordernis und Gebot. Der BND hat nun die Möglichkeit zu beweisen, dass eine Auftragserfüllung innerhalb der engen Grenzen des Grundgesetzes möglich ist. Wenn das gelingt, dann ist in einigen Jahren vielleicht nicht nur das Grundgesetz ein Exportschlager, sondern auch der grundgesetzliche Nachrichtendienst.
Der Anspruch an uns alle
Doch es wäre zu leicht, den Anspruch des Grundgesetzes nur auf staatliches Handeln zu beziehen. Unsere deutsche Verfassung stellt auch einen Anspruch an jeden einzelnen von uns und unser Zusammenleben. Egal ob wir viel oder wenige Verantwortung tragen, egal ob unsere Handlungen viele oder nur wenige betreffen – es ist unsere Aufgabe und der Anspruch an unser gesamtes Staatsvolk, dem Grundgesetz jeden Tag aufs neue gerecht zu werden und seinen Geist in Ehren zu halten.
Diese Ehre und diesen Anspruch erhalten wir, indem wir ihn selber leben, ihm durch unsere Taten Ausdruck verleihen und diese Werte gegenüber anderen und vor anderen verteidigen. Denn es gehört auch zu den Tatsachen des Grundgesetzes, dass es kein göttlichen Recht, sondern menschliches Streben ist, was jeden Tag aufs neue erhalten werden muss. Jeden Tag zerren verschiedene Kräfte an unserer Verfassung. Jede Tag muss diese weiter gestärkt werden. Es ist ein unaufhörlicher Kampf gegen den Treibsand der Zersetzung hin zu Totalitarismus und Barbarei. Eine Abwärtsspirale, bei der gute Absichten oftmals der Stein des Anstoßes sind und bei der kleine Schritte in Richtung Abgrund nebensächlich erscheinen. Doch Recht, Prinzipien und Werte sind weder Verhandlungsmasse noch beliebig dehnbar. Sie sind die Grundpfeiler unserer Gesellschaft.