Wie kürzlich von der taz unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz vor Gericht recherchiert wurde [1], gibt es eine „Stiftungsprofessur Integrative und Anthroposophische Medizin“ [2] an der renommierten Charité, einer der größten Universitätskliniken Europas. Von hier kamen deutsche Nobelpreisträger wie Emil von Behring, Robert Koch oder Paul Ehrlich.
Anthroposophie aber hat mit Wissenschaft nichts zu tun – sie ist Okkultismus in Reinform – was hat sie also an einem solchen Ort der Wissenschaft zu suchen? Nichts, meinen wir!
Trotzdem „erforscht“ Prof. Dr. med. Harald Matthes, nebenbei auch Präsident der Deutschen Akademie für Homöopathie und Naturheilkunde, seit 2017 an der Charité die Wirkung von anthroposophischen Mistelpräparaten auf Krebserkrankungen.
Warum? Offenbar, weil die Anthroposophen dafür gut zahlen.
Dafür nimmt man in Kauf, dass die Behandlung von Krebs-Patienten mit Schlangenöl legitimiert wird und sich die Bewegung rund um eine gefährliche, anti-wissenschaftliche, esoterische Weltsicht mit einer Professur an der Charité schmücken kann.
Über Anthroposophie
Die Anthroposophie ist eine esoterische Lehre mit Vollprogramm, begründet vom 1925 verstorbenen selbsternannten „Hellseher“ Rudolf Steiner [3]. Wer glaubt, es ginge hier bloß um etwas magische Wellness, irrt gewaltig.
Ein kleines Beispiel, basierend auf dem AnthroWiki, hinter dem die Anthroposophische Gesellschaft Österreich steht [4]:
Der heutige Mars ist der anthroposophischen Lehre nach eine Wiederverkörperung des sog. alten Mondes, der dritten Verkörperung der Erde. Dort residieren vermeintliche Marswesenheiten, der führende Erzengel der Marssphäre ist Samael. Nachdem Buddha seine letzte irdische Inkarnation durchlebt hatte, ist er zum Mars aufgestiegen. Dieser korrespondiert außerdem mit dem Planetenmetall Eisen, dem Wochentag Dienstag, dem Baum Eiche und den Organen Galle und Kehlkopf. Die Marskräfte bewahren uns davor, dass die Wärme aus uns fließt, weshalb sie in uns konzentriert sein müssen, was sie in Form des Eisens in unserem Blut glücklicherweise sind.
Anthroposophie ist antiwissenschaftlicher Hardcore-Okkultismus, ein esoterisches Wahnsystem.
Lage in Deutschland
Diese Spinnerei ist in Deutschland leider fest verwurzelt und hat handfeste Konsequenzen.
In der sogenannten Biodynamischen Landwirtschaft, vor allem durch den Demeter-Verband bekannt, leiden Tiere darunter, dass sie im Krankheitsfall mit wirkungslosen anthroposophischen Zauber-Präparaten behandelt werden.
An Waldorfschulen werden Kinder von den Lehrern gemäß der Steiner‘schen Temperamentenlehre nach vermeintlichen Wesenszügen eingeteilt, basierend auf dem „Karma“ des Kindes, das sich in Gesichtszügen, Körperbau, Verhalten, etc. äußere. [5, 6]
Kinder werden in anthroposophischen Elternhäusern gegen manche gefährlichen Krankheiten wie Masern häufig nicht geimpft [7], weil Krankheiten nach Steiner mit ihrem Karma [8] zusammenhängen könnten, im Falle von Seuchen mit dem Volkskarma [9], und sie daher durchlebt werden müssten, um vermeintliche Schuld aus früheren Leben abzubauen. Krankheiten können – der Anthroposophie nach – aber auch an einem ungesunden Einwirken der höheren Wesensglieder (Ätherleib, das Ich, Astralleib) auf den physischen Leib liegen, weshalb die Heilung auch dort zu suchen sei. Die Steiner‘sche Lehre ist damit eine der Säulen deutscher Impfgegnerschaft, und Waldorfschulen sind immer wieder Zentrum von Masernausbrüchen [10].
Die Anthroposophie hat in Deutschland großen gesellschaftlichen Einfluss. Beispiele sind die Waldorfschulen (253 in Deutschland, 1.187 weltweit) und Waldorf-Kindergärten (564 in Deutschland, 1.817 weltweit) [11], Demeter-Bauernhöfe (über 37.091 in Deutschland) [12], Anthroposophische Medizin mit der pharmazeutischen Weleda-Unternehmensgruppe, sechs deutschen anthroposophischen Krankenhäusern und einigen Lehrstühlen, der GLS Gemeinschaftsbank und der Software AG – Stiftung, eine der größten Stiftungen Deutschlands. Menschen, die über Anthroposophie aufzuklären versuchen, berichten, dass klagefreudige Anwälte versuchten, sie mundtot zu machen.
Anthroposophische Medizin hat in Deutschland sogar den gesetzlichen Status einer besonderen Therapierichtung. Wie bei der Homöopathie ist für ihre Präparate kein Wirksamkeitsnachweis nötig.
Und auch in der Politik finden sich Anhänger oder Unterstützer [13,14].
Misteltherapie
Was hat es nun also mit der anthroposophischen Misteltherapie gegen Krebs auf sich?
Misteltherapie wird seit über 100 Jahren praktiziert und es konnte bis heute keine Wirksamkeit nachgewiesen werden [15,16,17] – aber das muss sie dank ihres Sonderstatus ja auch gar nicht.
Die Wirksamkeit wird allein aus den hellsichtigen „Schauungen“ R. Steiners abgeleitet [18]. In dessen magischer Gedankenwelt reichte dafür die von ihm gezogene Analogie vom parasitären Wachstum der Mistel zu dem eines Krebs-Tumors. Dazu kommen dann weitere Absurditäten, wie dass Männer Mistel von Tanne, Eiche oder Ulme bekommen sollten, Frauen von Pinie, Linde, Esche oder Weide. Bei schnell wachsenden Tumoren nimmt man Mistel von der schnell wachsenden Pappel.
Steiner hat zum Thema Mistel weit mehr geäußert, als sich hier sinnvoll wiedergeben lässt. Einige Auszüge:
„Wenn man dasjenige ins Auge faßt, was insbesondere in der sich emanzipierenden Pflanzentätigkeit liegt, in dem, was dann kulminiert in der inneren Wirksamkeit der Parasiten, so hat man etwas, was hinneigt nach der Verinnerlichung der Imponderabilien. Dasjenige, was als Imponderabilien von dem Kosmos der Erde zuströmt, das wird in diesen Organen, wenn sie prädominieren, ebenso konserviert wie in der Phosphorsubstanz. So daß wir also sagen können: In einer gewissen Weise sind phosphorisch die Blüten und Samen und alles dasjenige, was zur Mistelbildung und dergleichen hinneigt. Und umgekehrt finden wir, wenn wir den Verwurzelungsprozeß studieren, dasjenige, was die Pflanze entwickelt, indem sie die Erde als ihren Muttergrund betrachtet, innig verwandt mit der Salzbildung. So daß gerade in der Pflanze uns diese beiden Polaritäten entgegentreten. Und in der vermittelnden Tätigkeit der Pflanze, die Sie ja immer sehen zwischen dem nach aufwärts strebenden Blutigen, Fruchtigen und dem nach unten Festwurzelnden, da haben Sie den Merkurialprozeß drinnen, dasjenige, was den Ausgleich herbeiführt. So daß Sie, wenn Sie nun die umgekehrte Stellung der Pflanze zum Menschen in Betracht ziehen, Sie sich sagen werden, daß alles dasjenige, was innerlich veranlagt ist zur Blüten- und Fruchtbildung,sehr stark Verwandtschaft haben muß mit den Organen des menschlichen Unterleibes und allen den Organen, die von dem menschlichen Unterleib aus orientiert werden, daß dann auch das Phosphorige sehr starke Verwandtschaft haben muß zu den Organen des menschlichen Unterleibes. […]
Nun ist die Mistel zweifellos dasjenige, durch dessen Potenzierung man erreichen wird müssen das Ersetzen des Chirurgenmessers bei den Geschwulstbildungen. […]“ [19]
Völlig absurdes Geschwurbel wie dieses ist tatsächlich Grundlage für die an der Charité studierten Pseudo-Therapien gegen Krebs!
Die Mistelpräparate werden den Patienten auf eigene Kosten zusätzlich zu anderen Krebsbehandlungen meist gespritzt. Die Hersteller profitieren also vom Leid und der Verzweiflung teils schwerkranker Menschen, die hoffen, mit Esoterik ihre Heilungschance erhöhen zu können. Tatsächlich verursachen die Substanzen aber nur eine weitere Reizung des Immunsystems und können bei manchen Tumorarten sogar dessen Wachstum anregen und die Überlebenschancen senken [20]! Weitere Nebenwirkungen können beispielsweise Fieber und Unwohlsein [21], aber auch anaphylaktischer Schock [22] sein.
Und wie immer in der Alternativ-„Medizin“ „gilt“:
Bei Heilung war es das Wundermittel, ansonsten wurde es falsch angewandt oder der Patient ist irgendwie schuld.
Hellseher vs. Evolutionärer Humanismus
Warum glauben Evolutionäre Humanisten den Anthroposophen nicht? Ist diese Ablehnung dogmatisch? Nein, denn der Evolutionäre Humanismus verpflichtet sich den Prinzipien der epistemischen Rationalität (rationale Überzeugungsfindung).
Der „Hellseher“ Steiner hat behauptet, in der Akasha-Chronik, der esoterischen Vorstellung eines übersinnlichen „Buch des Lebens“, lesen zu können. Könnte das jemand wirklich, wäre es fantastisch – wenn er oder sie es nachweisen könnte. Damit einhergehen würde eine wissenschaftliche Revolution, die Erforschung würde Nobelpreise nach sich ziehen, die sich daraus ergebende Nutzung würde die Welt auf den Kopf stellen. Ein solcher Nachweis existiert aber für keine von Steiners esoterischen Behauptungen, daher sind andere Erklärungen wie Scharlatanerie oder eine psychische Erkrankung anzunehmen.
Ergebnisoffenheit ist eins der Grundprinzipien epistemischer Rationalität und lässt sich aus dem mathematischen Satz von Bayes [23] herleiten. Aber für außergewöhnliche Behauptungen bräuchte es auch außergewöhnliche Evidenz. Wenn es wirklich mit Hellsichtigkeit begabte Menschen gäbe, dann müssten sie ihre Fähigkeiten unter den Bedingungen des wissenschaftlichen Experiments wiederholt unter Beweis stellen können. Diese müssten auch unter Verblindung funktionieren und sie müssten Informationen erschauen können, die sie anderweitig nicht hätten erlangen können. So etwas ist bisher aber nie gelungen. Auf der anderen Seite wurden zahllose Esoteriker aller Arten des Betrugs enttarnt oder es wurde Selbsttäuschung nachgewiesen. Hierzu sei auf die Psi-Tests der GWUP [24] verwiesen.
„Aber es könnte ja doch sein.“
Die Regeln der epistemischen Rationalität verlangen, dass es keine absoluten Gewissheiten gibt. „Aber es könnte ja sein“ ist in diesem Zusammenhang jedoch eine Technik der Selbsttäuschung, um die eigene Lieblingstheorie zu schützen. Solange keine Evidenz gefunden wurde, die die Lieblingstheorie sehr wahrscheinlich und alle anderen Theorien sehr unwahrscheinlich macht, gibt es keinen Grund, an ihre Richtigkeit zu glauben. Und wenn wirklich irgendein wissenschaftlich bisher nicht nachgewiesener Effekt existieren sollte, dann müsste es auch eine Erklärung geben, warum all die bisherigen Nachweisversuche fehlgeschlagen sind. Mit jedem Fehlschlag wird dies schwieriger. Andersrum gilt: Die Abwesenheit von Evidenz ist Evidenz für die Abwesenheit eines Phänomens [25].
Fazit
Dass sich die Charité an die Anthroposophen verkauft, ist eine Schande für Berlin und für ganz Deutschland.
Es ist unfassbar, dass für 293.000 € im Jahr erlaubt wird, dass an diesem Ort der Wissenschaft einem seit über 100 Jahren unbelegten okkultistischen Nonsens nachgejagt wird, der auf den nicht nachvollziehbaren Hirngespinsten eines angeblich hellsichtigen Gurus basiert.
Während die Partei der Humanisten sich natürlich für individuelle Überzeugungsfreiheit ausspricht, stellt sie sich entschieden gegen jede Art staatlich legitimierter oder gar finanzierter Esoterik und Pseudowissenschaft. Diese sind ein Nährboden für Betrug und falsche oder gar schädliche Heilversprechen. Jeder hat das Recht auf eigene Spinnerei, aber nicht auf eigene Fakten.
Irrationale Weltbilder wie das der Anthroposophen sind eine Gefahr für die Demokratie, denn um in einer Gesellschaft gemeinsam rationale Entscheidungen treffen zu können, muss man sich über die Grundlagen der Beschaffenheit der Welt einig sein.
Wir stehen daher für eine Politik, die auf Evidenz und humanistischen Werten basiert, womit wir zu Positionen und Entscheidungen finden, die für jeden nachvollziehbar sind.
Quellen
[1] taz, 2023. Die gekaufte Professur
[2] Charité. Prof. Dr. med. Harald Matthes, abgerufen 09.06.2023
[3] Wikipedia. Rudolf Steiner
[4] AnthroWiki. Mars
[5] AnthroWiki. Der pädagogische Instinkt des Lehrers
[6] AnthroWiki. Vier Temperamente
[7] T. J. Zuzak et al., 2008. Attitudes towards vaccination: users of complementary and alternative medicine versus non-users
[8] AnthroWiki. Karma
[9] AnthroWiki. Individuelles Karma und Gemeinschaftskarma
[10] GWUP, 2013. Waldorfschulen als Brutstätte für die Masern
[11] Bund der Freien Waldorfschulen. Waldorfschulen weltweit, abgerufen 09.06.2023
[12] Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft.Zahlen & Fakten zur Ökologischen Landwirtschaft, abgerufen 09.06.2023
[13] Anthroposophie.blog, 2015. Wer macht Politik für Anthroposophen? Die esoterische Elite der Politik (Teil 1)
[14] Anthroposophie.blog, 2015. Spitzenpolitiker und Waldorfschulen – Die esoterische Elite (Teil 2)
[15] Psiram. Misteltherapie
[16] Edzard Ernst, 2006. Mistletoe as a treatment for cancer
[17] Lutz Edler, 2004. Mistel in der Krebstherapie: Fragwürdige Ergebnisse neuerer klinischer Studien
[18] AnthroWiki. Mistel-Therapie
[19] Rudolf Steiner Gesamtausgabe, 1999. Vorträge über Medizin, Buch 312, S. 112 f., S. 252 f.
[20] S. Gabius & H.-J. Gabius, 2004. Lektinbezogene Mistelanwendung: experimentelle Therapieform mit präklinisch belegtem Risikopotential
[21] Beipackzetteln.de, 2022. Iscador – Beipackzettel
[22] Helixor. Fachinformation Helixor, abgerufen 09.06.2023
[23] Eliezer Yudkowsky, 2007. Conservation of Expected Evidence
[24] Humanistischer Pressedienst, 2019. Die Psi-Tests der GWUP
[25] Eliezer Yudkowsky, 2007. Absence of Evidence is Evidence of Absence