Scholz: Wenig Worte, wenig Waffen

Bald sind wir im vierten Monat des Überfalls Russlands auf die Ukraine. Doch trotz der anhaltenden harten Kämpfe ist kein Ende dieses Krieges in Sicht. Im Gegenteil müssen wir uns womöglich auf mehrere Jahre Krieg einstellen [1].

Am 16. Juni – viel zu spät, aber immerhin – haben sich Scholz, Macron und Draghi dazu entschieden, in die Ukraine zu fahren, um … was eigentlich zu tun? Scholz hatte im Voraus angekündigt, er würde „nicht für einen Fototermin, sondern nur für ganz konkrete Dinge“ [2] in die Ukraine reisen. Bekommen haben wir ein schriftliches Lippenbekenntnis für die Ukraine, vielleicht in Zukunft eine Chance auf den EU-Beitritt zu erhalten [3]. Sich dafür auszusprechen war ein Zug, der Olaf Scholz nur wenig politisches Kapital abverlangte; wohl wissend, dass das Putin-freundliche Ungarn beim EU-Gipfel sein Veto hätte einlegen können. Bei dem Verhalten Ungarns in letzter Zeit, EU-Entscheidungen zu Sanktionen zu torpedieren [3.2], bestand diese Möglichkeit durchaus. Dass die Ukraine gemeinsam mit Moldau den Kandidatenstatus erlangt hat [3.3], ist jedoch nur ein erster kleiner Schritt.
Ein Beitrittsstatus führt nämlich nicht zwangsläufig zu einem zügigen Beitritt. So sind beispielsweise Nordmazedonien seit 2005, Albanien seit 2014 offizieller Beitrittskandidat. Jedoch hatten bis Anfang 2020 für Nordmazedonien und Ende 2021 für Albanien die Beitrittsverhandlungen noch nicht begonnen und bis heute nicht abgeschlossen.

Unabhängig davon sagte der Bundeskanzler nun der Ukraine „die volle Unterstützung“ zu. Finanziell, humanitär und auch mit Waffen wolle man weiterhelfen, solange das für den Unabhängigkeitskampf der Ukraine nötig sei [4]. Seine bisherigen Handlungen lassen daran Zweifel aufkommen.

Scholz, aber auch Macron, hatten sich wiederholt für Gespräche mit Russland ausgesprochen [5], Russland dürfe „nicht gedemütigt werden“ [6]. Dass Russland nicht erkennbar an Frieden interessiert ist, zeigen nicht nur andauernde und zahlreich dokumentierte Kriegsverbrechen russischer Soldaten in Butscha [7], Mariupol und unzähligen anderen ukrainischen Städten und Dörfern. Auch das Verringern des Gasflusses durch Nord Stream 1 nach Deutschland wegen „Wartungsarbeiten“ [8], kann als Abschreckungsmaßnahme gewertet werden, die Ukraine nicht weiter zu unterstützen. Es zeigt uns, dass mit Russland jegliche sinnvolle Kooperation auf absehbare Zeit unmöglich ist und dass unsere bisherige und derzeitig anhaltende Abhängigkeit ein schwerer Fehler ist.

Die Idee, das Leid in der Ukraine könne – oder gar sollte – durch einen Friedensvertrag mit Russland zu Lasten der Ukraine beendet werden (bspw. durch Abtreten von Staatsgebieten), ist fundamental fehlgeleitet. Es ist im absoluten Interesse der Ukraine und aller Demokratien weltweit, dass die Ukraine nicht nur überlebt, sondern diesen Krieg eindeutig gewinnt! Das bedeutet einen Rückzug aller russischen Truppen aus ukrainischem Staatsgebiet, inklusive des Donbass und der Krim.

Warum? Die Antwort darauf lässt sich in der russischen Geschichte und der ideologischen Weltsicht der Führung des Kremls finden. Bereits letztes Jahr veröffentlichte Putin selbst ein Essay über die „historische Rolle der Ukraine als Teil Russlands“ [9]. Heutzutage werden in russischen Schulbüchern die Wörter „Ukraine“ und alle historischen Referenzen zur Ukraine als souveräner Staat entfernt [10]. „Die Ukrainische Identität sollte nicht existieren“, heißt es in offiziellen russischen Staatsmedien [11]. Im Wesentlichen wurde dort bereits beschrieben, was heute geschieht.

Dem ukrainischen Staat und dem ukrainischen Volk wird das Existenzrecht abgesprochen. Ein Muster, welches uns Deutschen nur allzu gut bekannt sein sollte. Tatsächlich sind die Parallelen zwischen dem heutigen Russland und Deutschland 1939 erschreckend. Der Donbass und die Krim waren Putins Sudetenland, die Ukraine ist die „Resttschechei“ – wenn wir es nicht verhindern.

Man hört oft von Friedensbewegungen oder von Initiativen gegen das Liefern schwerer Waffen [12]. Es würde den Krieg beenden und menschliches Leid verringern. Das Gegenteil ist der Fall, denn ein Friedensvertrag zu diesem Zeitpunkt würde nur einem Sieg Russlands gleichkommen. Einem Sieg von rücksichtslosen, menschenverachtenden Autokratien über demokratische, liberale Gesellschaften. Ein Rückzieher des Westens und seiner Verbündeten würde – abgesehen von der höchstwahrscheinlich weitergehenden Deportation und Russifizierung der ukrainischen Bevölkerung in den eroberten Gebieten [13] – ein fatales Signal an alle autoritären Regime senden: Krieg lohnt sich. Es würde zeigen, dass der Westen, wenn es hart auf hart kommt, nicht willens ist, ideologisch verbündete Staaten zu unterstützen. Es würde zeigen, dass der Überfall der Nachbarländer eine angemessene Methode zur Erweiterung des eigenen Territoriums ist. Für Diktaturen wie Russland und China stellen ein paar hunderttausend Menschen einen geringen Preis dar. Das erkennt man an der systematischen Unterdrückung von Minderheiten (z.B. der Uiguren in China [14]) oder der selektiven Rekrutierung ethnischer Minderheiten in die russische Armee [15].

Aber sind denn die Interessen der Ukraine auch unsere Interessen? Kurz gesagt: Ja! Denn jede Demokratie unterliegt in ihrem Selbsterhaltungsinteresse auch immer der Pflicht, den Schutz und die Stabilität anderer Demokratien zu gewährleisten. Das gilt auch für Systeme, welche die demokratische Transformation noch nicht abgeschlossen haben. Die Unterstützung der Ukraine ist momentan ein Sinnbild für den Wert, den wir unserer eigenen freien demokratischen Grundordnung beimessen. Besonders unter diesem Blickwinkel sind die Aussagen und Handlungen Macrons und Scholz‘ erschreckend. Das Liefern von sieben Panzerhaubitzen und insgesamt zehn Raketen-Artilleriesystemen (durch USA, GB, und Andere) kommt für ein Land, das in Sachen Artillerie 15 zu 1 in der Unterzahl ist [16], beinahe einem Hohn gleich.

Aber auch geopolitisch hat der Westen viel durch die Ukraine zu gewinnen. Nach dem zweiten Weltkrieg hat die USA im Zuge des Marshall-Plans mit Unsummen das in Schutt und Asche liegende Europa wieder aufgebaut. Heute leben wir in Frieden und Wohlstand – und sind Verbündete. Helfen wir der Ukraine, gewinnen wir möglicherweise einen auf Jahrzehnte wichtigen und loyalen Verbündeten. Mit einer großen Menge an Bodenschätzen, Bevölkerung und Potential! Auch verhindern wir so weitere Kriege und Aggressionen Russlands oder anderer Autokratien. Gleichzeitig zeigen wir aller Welt, wie sehr es sich lohnen kann, gemeinsam mit uns auf einer Seite zu stehen. Wir können die Welt zu einem Ort machen, in dem menschliches Leben geachtet und Freiheit und Wohlstand gelebt werden. Es hängt von uns ab.

Aus diesen Gründen ist die Unterstützung der Ukraine nicht nur moralisch, sondern auch politisch in unserem eigenen höchsten Interesse. Im aktuellen Fall der Ukraine bedeutet das die Lieferung so vieler schwerer Waffen und Munition wie nötig, um ihre vollständige politische, staatliche und territoriale Souveränität zu gewährleisten. Dies wird nur mit langfristiger und groß angelegter Unterstützung gelingen. Dazu gehört auch, die Rüstungskapazitäten vollständig auszuschöpfen oder gegebenenfalls hochzufahren, damit rechtzeitig genügend Militärgerät verfügbar ist. Wir fordern daher die Bundesregierung dazu auf, ihren Bekenntnissen zu Demokratie, Freiheit und das damit verbundene Recht auf Staatssouveränität, welches im Völkerrecht verankert ist, nachzukommen. Wir müssen – nicht nur mit Worten, sondern jetzt mit Taten – unserer Verantwortung gerecht werden.


Quellen:

[1] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-krieg-selenskyj-105.html

[2] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-scholz-reise-kiew-101.html

[3] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/scholz-kiew-kommentar-ukraine-krieg-russland-100.html

[3.2] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-oel-teilembargo-101.html

[3.3] https://www.mdr.de/nachrichten/welt/politik/eu-beitritt-kandidatenstatus-ukraine-moldau-100.html

[4] https://www.youtube.com/watch?v=AV2mNPrsomg Tagesschau vom 16.06.22

[5] https://www.spiegel.de/ausland/olaf-scholz-es-ist-absolut-notwendig-mit-putin-zu-sprechen-a-f5e24dde-4fc4-4898-862e-3df1aaf70174

[6] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/macron-verhandlungen-ukraine-krieg-russland-100.html

[7] https://edition.cnn.com/2022/04/19/europe/russia-bucha-brigade-honorary-title-putin-intl/index.html

https://www.spiegel.de/ausland/nach-den-graeueltaten-in-butscha-putin-verleiht-ehrentitel-an-brigade-a-66c838d7-717d-4cdc-a81f-67254ff02de2

https://www.merkur.de/politik/butscha-putin-ukraine-kriegsverbrechen-russland-konflikt-soldaten-ehrentitel-news-infanteriebrigade-zr-91485568.html

[8] https://www.zdf.de/nachrichten/wirtschaft/gazprom-gaslieferung-drosselt-ukraine-krieg-russland-100.html

[9] http://en.kremlin.ru/events/president/news/66181

[10] https://www.eurasiareview.com/04052022-russian-educational-publishing-house-erases-ukraine-from-schoolbooks-oped/

[11] https://www.cbc.ca/news/world/kremlin-editorial-ukraine-identity-1.6407921

[12] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/krieg-in-der-ukraine-zehntausende-unterzeichnen-brief-gegen-lieferung-schwerer-waffen-a-b5aee2f9-2cbc-46ad-9fbb-bb591a06cde8

[13] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/filtrierungslager-deportation-russland-ukraine-krieg-100.html

[14] https://www.xinjiangpolicefiles.org/

[15] https://inews.co.uk/news/putin-accused-using-troops-ethnic-minority-backgrounds-as-cannon-fodder-1539841

https://freerepublic.com/focus/f-chat/4049150/posts

[16] https://en.defence-ua.com/analysis/how_much_the_russian_artillery_outnumbers_ukraines_in_density_and_amount_of_systems-3260.html