Ultima Ratio Impfpflicht - Der letzte Weg aus der Krise?

Die vierte Corona-Welle rollt über Deutschland und sorgt für die höchsten Inzidenzen, die wir bei uns seit Beginn der Pandemie beobachtet haben. Mit der Anzahl der Neuerkrankungen steigt auch die Anzahl der Menschen, die in Krankenhäuser eingeliefert werden müssen und auch jener, die letztlich infolge einer Corona-Infektion sterben.

Der größte Unterschied zu den vorangegangenen Corona-Wellen ist, dass es im Verhältnis zur Gesamtzahl der Erkrankten weniger schwere Verläufe gibt. Gleiches gilt für die Anzahl an Todesfällen. Durch die immerhin in Teilen erfolgreiche Impfkampagne seit Frühjahr 2021 liegen heute kaum Geimpfte auf den Intensivstationen. Ein Todesfall unter Geimpften ist die absolute Ausnahme.

Impfwirkung

Durch die Corona-Impfung war es möglich, die Wahrscheinlichkeit schwerer Verläufe nach einer Infektion um über 85 % zu reduzieren [1] und entsprechend auch die Sterbewahrscheinlichkeit. Mit der Zeit stellte sich jedoch heraus, dass nach einigen Monaten der Schutz vor asymptomatischer Infektion und Weiterverbreitung des Virus sinkt und bei Immunsupprimierten und Älteren auch der Schutz vor schwerem COVID leicht nachlässt [2], weswegen eine sogenannte Booster-Impfung zur Auffrischung empfohlen wurde [3]. In Israel hat sich bereits gezeigt, dass der Einsatz der Booster-Impfung eine Welle brechen und die Bevölkerung effektiv schützen kann [4]. Die Impfung verlangsamt also auch effektiv die Ausbreitung des Corona-Virus und damit das Infektionsgeschehen.

Stand der Impfung

Stand jetzt (Ende November 2021) haben in Deutschland nur knapp 70 % der Bevölkerung einen vollständigen Impfschutz [5]. Fast ein Drittel ist somit ungeschützt. Allerdings muss man hierbei die ca. 10 % der Bevölkerung abziehen, die bisher noch kein Impfangebot erhalten haben: die unter 12-Jährigen. Bei weiteren 5 %, den 12- bis 18-Jährigen, läuft die Impfkampagne noch. Darüber hinaus gibt es einen äußerst kleinen Teil der Bevölkerung, welcher aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden kann [6]. Es bleiben also ca. 15 %, das sind ca. 13 Millionen erwachsene Menschen, die sich seither gegen eine Impfung entschieden haben. Es sind vor allem die 18- bis 59-Jährigen, von denen mehr als ein Viertel noch keinen vollständigen Impfschutz hat, bei den über 60-Jährigen sind es nur etwa halb so viele. Weiterhin sollte der Schwerpunkt darauf liegen, dass priorisiert die ältere Bevölkerung durchgeimpft wird, da so pro Impfung deutlich mehr schwere Verläufe verhindert werden können.

3G/2G/2G+ – Pandemie-Eindämmung ohne Lockdown

Anstatt einen Lockdown zu verhängen, wurden mit der steigenden Impfquote die G-Konzepte (3G/2G/2G+ etc.) zum Standardwerkzeug der Pandemiemaßnahmen. Leider reichen diese Konzepte nicht aus, um bei der gegebenen Impfquote die Infektionszahlen hinreichend einzudämmen. Die kältere Witterung, die die Menschen wieder ihren Alltag in Innenräumen verbringen ließ, fehlende Kontrollen, falsche Signale aus der Politik, die Tatsache, dass Impfungen zwar exzellent vor schwerem Verlauf schützen, aber der Schutz vor Übertragung mit der Zeit abnimmt [7] und die weiterhin verbreitete Impfskepsis bei zu vielen Menschen ließ ab Oktober die Infektionszahlen wieder deutlich steigen und im November regelrecht explodieren [8]. Diese Entwicklung war bereits im Vorfeld absehbar [9]. Die derzeitige Umsetzung der G-Konzepte ist nicht ausreichend, um die Infektionszahlen und — entscheidend! — die Hospitalisierungszahlen auf einem vertretbaren Level zu halten.

Mit der 2G-Regel wurde vor allem versucht, einen gesellschaftlichen Druck auf den ungeimpften Teil der Bevölkerung aufzubauen. Wer keine vollständige Impfung vorweisen konnte, durfte an weiten Teilen des gesellschaftlichen Lebens nicht mehr teilhaben. Für all jene, die trotzdem ins Kino oder Theater gehen wollten, sah dies wie eine Impfpflicht „durch die Hintertür“ aus.

Als Teil von 3G konnte man sich mit Hilfe eines negativen Tests (meistens Schnelltest, in manchen Fällen war auch ein PCR-Test notwendig) aber dennoch die Teilnahme an Veranstaltungen ermöglichen. Im Vergleich zu 3G, wo man vor allem Infizierte von der Teilnahme abhalten möchte, gilt es bei 2G, ungeimpfte Personen und damit Menschen, die einem höheren Risiko für eine Corona-Infektion ausgesetzt sind, von der Teilnahme und damit einer möglichen Ansteckung abzuhalten. Es bleibt aber zu befürchten, dass somit Treffen von Ungeimpften lediglich in den Dunkelbereich verlagert werden.COVID-19 wird endemisch werden. Infektionen wird man nie zu 100 % verhindern können. Die Frage ist nicht „Impfung oder Infektion?“ sondern „Infektion mit oder ohne Impfung?“. Und hier rät jeder ernstzunehmende Experte zur Impfung, um die teils dramatischen Gesundheitsfolgen bei ungeimpften Infizierten abzuwenden: von Krankenhausaufnahme und Long COVID bis hin zu Beatmung, ECMO und Tod.

Wege durch den Winter

Während die Infektionszahlen weiter steigen, bleiben der Politik nur drei Möglichkeiten für diesen Winter:

massive Kontaktbeschränkungen durch Lockdown
Impfpflicht
Kollaps der Krankenhäuser

Kurzfristig gibt es eigentlich sogar nur noch zwei Optionen. Entweder wir sorgen für eine massive Reduktion der Kontakte und damit einer Reduktion des Infektionsgeschehens oder die Intensivstationen laufen über und müssen zur Triage übergehen, ein Prozess, der teilweise schon eingesetzt hat [10]. Wie schon vielfach angemerkt wurde: „Es ist 5 nach 12“.

Eine Impfpflicht würde kurzfristig keine Wirkung entfalten. Bis die Impfwirkung einsetzt, dauert es einige Wochen. Das heißt, eine sofortige massive Ausweitung der Impfkampagne (einschließlich der bisher ungeimpften erwachsenen Bevölkerung) würde frühestens zum Jahreswechsel zu einer Entspannung der Lage führen. Diese Feststellung ist leider der Tatsache geschuldet, dass man politisch zu lange zögerte, der vierten Welle effektiv zu begegnen. Aber je höher der Anteil der vollständig Geimpften und darüber hinaus geboosteten Bevölkerung ist, desto schwerer hat es das Virus sich auszubreiten und desto seltener sind schwere Verläufe.

Möchten wir also verhindern, dass wir noch eine fünfte, sechste oder siebte Welle erleben, so müssen wir ohnehin möglichst die gesamte Bevölkerung impfen. Denn schon lange ist klar, dass wir Corona nicht loswerden. Jeder Mensch wird sich im Laufe seines Lebens mit dem Virus infizieren. Die Impfung ist das beste Mittel, dass diese Infektion ohne schwerwiegende Folgen bleibt und eben nicht auf der Intensivstation (oder im Krematorium) endet.

Kurzfristig bleibt also wohl wieder einmal nur der „Vorschlaghammer“ unter den Maßnahmen übrig: Lockdown — mit all seinen Nebenwirkungen. Das wäre vermeidbar gewesen. Das RKI und viele andere Wissenschaftlicher warnten bereits vor dem Sommer [11] [12], doch sie stießen auf taube Ohren. Es wurden die Chancen vertan, vorausschauend die vierte Welle im Keim zu ersticken.Diese Zeit hätte genutzt werden müssen, um Deutschland mit wirksamen Maßnahmen auf den Winter vorzubereiten [13]:

starke Ausweitung der Impfkampagne, insbesondere durch niedrigschwellige Angebote auch ohne Krankenversicherung und durch Apotheker
Weiterbetrieb der Impfzentren für die absehbaren Booster-Kampagnen
Begegnung von „Impfskeptikern“ mit Kampagnen gegen Desinformation, mehr Aufklärungsangeboten und Hilfestellungen für Gespräche mit Freunden und Familienangehörigen
vermehrte Nutzung von „2G+“ bzw. „1G“ (getestet), um auch asymptomatische Infektionen unter Geimpften zu entdecken und nachzuverfolgen
Durchsetzung und Kontrolle der Maskenpflicht und G-Regeln
Beibehalten der kostenlosen Schnelltests und Ausbau der PCR-Testkapazitäten
konsequente Verfolgung von Straftaten (z.B. Fälschung von Impfpässen und Attesten, Angriffe auf Impfzentren etc.)
Nachholen der versäumten Luftfilter-Installation in Schulen
und viele mehr

Diese Versäumnisse sollten nun schnellstmöglich korrigiert werden.

Impfpflicht als Lösung?

Darüber hinaus wird nicht ohne Grund seit Monaten über eine mögliche Impfpflicht diskutiert. Von der Politik wurde sie aber schon frühzeitig kategorisch ausgeschlossen [14]. Allerdings hat sich seither die Lage verändert. Die WHO sieht die Impfpflicht als das letzte Mittel, um eine Krankheit einzudämmen [15]. In Österreich ist man diesen Schritt bereits gegangen, gemeinsam mit einem sofortigen Lockdown wurde dort eine Corona-Impfpflicht beschlossen [16].

In Deutschland haben wir in den letzten Monaten viele Anstrengungen unternommen, um die Menschen zur Impfung zu bringen und damit immerhin ca. 70 % der Bevölkerung erreicht. Leider ist das zu wenig. Desinformation, Unsicherheiten und schlechte Kommunikation tragen dazu bei, dass sich eine sogenannte „Impfskepsis“ sehr vehement in einer Minderheit der Bevölkerung hält. Bedauerlicherweise ist diese Minderheit, wie oben beschrieben, groß genug, um unser Gesundheitssystem substanziell zu gefährden [17]. Hätten die Folgen der Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, tatsächlich nur Auswirkungen auf einen selbst, müsste man das Thema gar nicht diskutieren. Aber ohne Impfung stellt man mittlerweile einen Risikofaktor für seine Mitmenschen dar – denn wenn sich viele Menschen ohne Impfung gleichzeitig infizieren, werden auch viele von ihnen aufgrund der fehlenden Impfung gleichzeitig Intensivbetten belegen. Hätten wir genügend Kapazitäten, wäre das Problem weniger schwerwiegend. Die meisten schweren Corona-Verläufe wären jedoch vermeidbar und wenn diese nun die Versorgung von Patienten mit anderen Erkrankungen (z.B. Herzinfarkt, Verkehrsunfall, OP) einschränken, ist die Entscheidung sich nicht zu impfen keine rein private, sondern auch eine gesellschaftliche.

Schon in der Vergangenheit wurde eine Impfpflicht angeordnet, um schwere Krankheiten einzudämmen (z. B. Masern) oder sogar auszurotten (z. B. Pocken). Auch, wenn sich diese historischen Beispiele nicht 1:1 auf SARS-CoV-2 übertragen lassen: Das Corona-Virus ist ein Katastrophenfall mit gravierenden Folgen für unsere Gesellschaft. In solchen Notlagen kann es angebracht sein, auch zu drastischen Maßnahmen zu greifen. In einer Gesellschaft sind Verpflichtungen manchmal notwendig, um auf der anderen Seite Freiheiten zu gewährleisten. Die genaue Ausgestaltung einer solchen Verpflichtung wäre Teil weiterer Diskussionen.

Wir müssen uns letztlich fragen: Was ist die Alternative? Bei weiterhin stagnierender Impfquote und ausgehend von den aktuellen Infektionszahlen, würde es noch sehr lange dauern, bis alle Ungeimpften per Durchseuchung ausreichend immunisiert werden und so die Krankheitslast bei neuen Infektionen abnimmt. Mal ganz abgesehen von den Toten und dem Leid, welche mit diesem Weg verbunden wären — wir können uns als Gesellschaft, auch in Verantwortung für unsere Kinder, keine weiteren Jahre „Dauer-Pandemie“ leisten.

Es geht nicht darum, dass wir eine Impfpflicht wollen – wir sind aber nun leider in einer Situation, in der wir auf sie angewiesen sind.

Unsere Quellen für diesen Artikel:

[1] https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-wirksamkeit-impfstoffe-delta-variante-100.html abgerufen am 22.11.2021

[2] https://www.aerzteblatt.de/archiv/221355/COVID-19-Impfung-Wie-lange-der-Schutz-anhaelt abgerufen am 22.11.2021

[3] https://www.spektrum.de/news/was-booster-impfungen-leisten-koennen/1946560 abgerufen am 22.11.2021

[4] https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-11/boosterimpfung-israel-corona-impfung-pfizer-impfdruchbrueche-impfschutz-wirksamkeit abgerufen am 22.11.2021

[5] https://impfdashboard.de/ abgerufen am 22.11.2021

[6] https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/corona-impfung-wer-kann-nicht-geimpft-werden,SjqeQ2c abgerufen am 22.11.2021

[7] https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(21)02183-8/fulltext abgerufen am 22.11.2021

[8] https://www.risklayer-explorer.com/event/100/detail abgerufen am 22.11.2021

[9] https://www.tagesschau.de/inland/rki-infektionszahlen-anstieg-vierte-welle-101.html abgerufen am 22.11.2021

[10] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/129174/Latente-Triage-hat-begonnen abgerufen am 22.11.2021