Rund 15.000 Flüchtlinge – die meisten Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan – leben derzeit auf den griechischen Inseln. Die Zustände dort sind eine humanitäre Katastrophe, und zwar nicht erst seit dem Wintereinbruch und der andauernden Covid-19-Pandemie. Bereits vor einem Jahr haben wir die menschenunwürdigen Zustände in der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik kritisiert und konkrete Maßnahmen gefordert [a]. Passiert ist seitens vieler europäischer Regierungen viel zu wenig oder gar nichts. Im Gegenteil, die Situation hat sich nur weiter verschlimmert. Die Covid-19-Pandemie belastet die Flüchtlinge in den Lagern nicht nur enorm, sie hat deren unerträgliches Leid auch fast vollständig aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt. Wir müssen das Thema wieder stärker in den Fokus rücken und dürfen es nicht länger ignorieren!
In Folge unterschiedlicher, zusammenwirkender Faktoren kam es in den Jahren ab 2015 zu einem starken Zuwachs an Asylanträgen, die in Deutschland gestellt wurden. Im Jahr 2016, in dem die bis dahin höchste Zahl an Anträgen gestellt wurde, beantragten über 700.000 Menschen Asyl in Deutschland [1]. Ein Großteil der Hilfesuchenden kam dabei aus dem durch den Bürgerkrieg zerrütteten Syrien [2]. Nicht nur in Deutschland, sondern innerhalb der gesamten EU führte dieses als „Flüchtlingskrise“ bekannte Phänomen zu gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen. Ein Grund dafür ist die „Dublin-III-Verordnung [b]“, nach welcher in der Regel diejenigen Länder für den Asylprozess verantwortlich sind, durch die geflüchtete Menschen zuerst die EU betreten. Aus geographischen Gründen betrifft dies vor allem Italien und Griechenland – die mit der Unterbringung, Versorgung und bürokratischen Bearbeitung von Anträgen überfordert sind und sich bislang auf die Solidarität anderer europäischer Staaten nicht verlassen konnten. Um die Situation insbesondere in Griechenland etwas zu entlasten, wurde 2016 der „Türkei-Deal“ erdacht. Die Idee dieses Deals war, dass Asylsuchende, die sich bereits in Griechenland aufhalten, jedoch in der EU nicht asylberechtigt sind, von der Türkei aufgenommen werden. Im Gegenzug nimmt die EU für jeden dieser Asylsuchenden einen weiteren auf und unterstützt die Türkei monetär. Die Türkei wird jedoch entgegen der offiziellen Klassifizierung von vielen Menschenrechtsorganisationen als sicherer Drittstaat abgelehnt. Zudem hat dieser Deal alleine aufgrund langfristiger Prozesse, mangelnder Organisation und Zusammenarbeit sowie aus asylrechtlichen Gründen nicht wirklich funktioniert [3]. All dies hat dazu beigetragen, dass auf griechischen Inseln die Lager in Moria und Kara Tepe entstanden sind. Die Menschen dort müssen unter derart desaströsen Bedingungen leben, dass es Schande und Armutszeugnis zugleich für die Europäische Union sind.
Ein Großteil der Asylsuchenden lebt mittlerweile im Lager Kara-Tepe, nachdem viele aus dem fast vollständig abgebrannten Lager Moria evakuiert werden mussten [4]. Kara Tepe ist mit geschätzten über 8.000 Menschen völlig überfüllt. Die Versorgung mit Sanitäranlagen und Strom ist mangelhaft, sodass ein Großteil der Menschen selbst im Winter ohne Heizung auskommen musste. Zudem weist der Boden des ehemaligen Truppenübungsplatzes erhöhte Bleiwerte auf – was vor dem Hintergrund, dass die Menschen und insbesondere die Kinder, dauerhaft direkt mit dem Erdboden in Kontakt sind, ein nicht zu vernachlässigendes Gesundheitsrisiko darstellt [5]. Besonders deutlich wird die Schwere der Situation anhand des Umstandes, dass sich „Ärzte ohne Grenzen“ 2020 gezwungen sahen, eine Tetanus-Impfkampagne durchzuführen, weil sich Rattenbisse insbesondere bei Kindern häuften [6]. Es fehlt aber nicht nur an sanitären Anlagen und Strom, sondern auch an Möglichkeiten der Beschäftigung und Bildung für Kinder oder psychologischer Betreuung für die Menschen, die häufig unter komplexen Traumata leiden [7]. Die Verzweiflung der Menschen äußerte sich unter anderem in einem offenen Brief, der im Dezember 2020 veröffentlicht wurde. In diesem Brief werden unter anderem eine ausreichende Wasserversorgung, Versorgung mit Elektrizität und Heizungen, mehr Licht – unter anderem um Übergriffe auf Frauen zu verhindern – und mehr Zelte für Schulen und Werkstätten gefordert [8]. All dies sind Forderungen, die eigentlich überhaupt nicht nötig sein sollten, weil sie dem absoluten Minimum der Versorgung entsprechen, die schutzsuchende Menschen in Europa zugesichert bekommen. Dass diese grundlegende Versorgung nicht gewährleistet ist, kann nur als ein Versagen der verantwortlichen Institutionen bezeichnet werden. Durch die nunmehr seit einem Jahr anhaltende Pandemiesituation hat sich die Lage der geflüchteten Menschen nur verschlimmert Daher fordert auch UNICEF bessere Schutzmaßnahmen und Aufklärung in der Lagern – neben besserer Versorgung und Bildungsangeboten, die für junge Menschen später einen Übergang zu allgemeinbildenden Schulen vereinfachen sollen [9].
Die Route, der flüchtenden Menschen über das Mittelmeer folgen, hat im Jahr 2020 etwa 1.200 von ihnen das Leben gekostet. Sie ist damit nach wie vor die tödlichste Fluchtroute der Welt [10]. Wir dürfen das Leid von Geflüchteten in Europa nicht länger ignorieren, sondern müssen handeln. Deutschland hat seit April 2020 etwa 2.200 Menschen aus Griechenland herausgeholt [11]. Das war ein erster Schritt, aber nach wie vor zu wenig. Insbesondere die grundlegenden Menschenrechte von Kindern müssen in den Fokus unseres Handelns gerückt werden. Es kann nicht sein, dass vor unseren Türen Kinder in Bedingungen leben, die nicht einmal ansatzweise dem entsprechen, was wir als menschenwürdig betrachten. Wir fordern in unserem Programm unter anderem einheitliche und gesellschaftsfähige Standards für die Betreuung und Unterbringung von Asylbewerbern und Flüchtlingen als eine Selbstverständlichkeit. Ferner fordern wir schnelle und unbürokratische Asylverfahren unter Einhaltung von rechtsstaatlichen Standards und hoher Qualität.
Dies entspricht offensichtlich nicht dem Status quo. Die Zustände in den Lagern müssen sich erheblich verbessern. Außerdem müssen die Asylverfahren besser organisiert und beschleunigt werden, um unnötig lange Wartezeiten zu verhindern. Ferner muss die europäische Zusammenarbeit gestärkt und das Dublin-System ersetzt werden. Dazu schreiben wir in unseren Grundsatzprogramm:
„Die Regelungen der Dublin-III-Verordnung haben sich dabei als unpraktikabel und unsolidarisch erwiesen und sind schnellstmöglich durch ein funktionierendes, effizientes Verteilungs- und Zuständigkeitssystem zu ersetzen.“
Wie ein solches System aussehen kann, beschreiben wir ausführlich in unserer Vision für ein geeintes Europa: Vision Europa. Fest steht: Die aktuelle Situation ist nicht tragbar. Wir dürfen nicht länger wegschauen, sondern müssen handeln. Es ist unsere humanitäre Verpflichtung, für die Einhaltung von Menschenrechten einzustehen und Menschen in Not so effizient wie möglich zu helfen. Das bedeutet mittel- und langfristig, effizientere, digitale Prozesse für Asylanträge zu etablieren, die bereits in den Herkunftsländern ansetzen, und eine funktionierende europäische Asylpolitik aufzubauen, die solidarisch ist und die Menschenrechte achtet. Kurzfristig bedeutet es, die überfüllten Lager so schnell wie möglich zu evakuieren, aufnahmewilligen Kommunen nicht im Weg zu stehen und allem voran Menschen nicht zu Figuren politischen Schachspiels werden zu lassen.
Verweise
- https://www.pdh.eu/2020/03/18/das-perfide-spiel-mit-der-not-von-menschen-muss-gestoppt-werden/
- https://de.wikipedia.org/wiki/Verordnung_(EU)_Nr._604/2013_(Dublin_III)
Quellen
- https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/flucht/zahlen-zu-asyl/265708/asylantraege-und-asylsuchende
- https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/flucht/zahlen-zu-asyl/265710/demografie
- https://www.tagesschau.de/ausland/europa/eu-tuerkei-fluechtlingsabkommen-113.html
- https://www.tagesschau.de/ausland/moria-polizei-raeumung-101.html
- https://www.tagesschau.de/fluechtlingslager-lesbos-blei-munition-101.html
- https://www.aerzte-ohne-grenzen.at/article/lager-auf-den-griechischen-inseln-muessen-dringend-evakuiert-werden
- https://www.spiegel.de/politik/ausland/griechische-staatsanwaltschaft-will-gefluechtete-wegen-brandstiftung-belangen-a-c05f96d8-cebc-4d7b-8b61-1f7464cb843c
- https://www.medico.de/moria-brief
- https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/presse/2021/statement-sechs-monate-brand-moria/237408
- https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/mittelmeer/
- https://www.tagesschau.de/inland/fluechtlinge-griechenland-abkommen-deutschland-101.html