In vielen Ländern soll nach den Sommerferien der reguläre Schulunterricht wieder anlaufen — genau wie vor den Einschränkungen. Auf der einen Seite kann man sicherlich darüber streiten, ob das übereilt und unvorsichtig ist, auf der anderen gibt es viele Schüler und Eltern, die den Moment kaum erwarten können. Es ist aber nicht nur ein Schritt Richtung Normalität. Es bedeutet auch, dass wir die Chance verpasst haben, während der Corona-Krise an den – jetzt besonders offensichtlichen – Stellschrauben für bessere Chancengleichheit zu drehen.
Doppelte Überlastung
Durch die Schulschließungen haben sich bestehende Problematiken sozialer Ungerechtigkeit verschärft. Sozioökonomisch benachteiligte Schüler, die ohnehin schon Probleme in unserem Schulsystem haben, leiden überproportional unter der aktuellen Situation und werden so weiter an den gesellschaftlichen Rand gedrängt. Nicht alle Haushalte verfügen beispielsweise über ausreichenden Internetzugang und entsprechende Endgeräte. Auch der soziale Kontakt mit Klassenkameraden und Lehrkräften fällt für viele weg. Gleichzeitig steigt die Belastung für Eltern stark; viele können ihre Kinder nicht angemessen unterstützen — ein Problem, das bildungsferne, sozioökonomisch eher schlecht gestellte Familien stärker trifft.
Insgesamt verstärkt sich die Abhängigkeit des Bildungserfolges von der sozialen Herkunft also vermutlich noch. Damit sozioökonomisch benachteiligte Lernende nicht den Anschluss verlieren, müssen wir gegensteuern.
Strukturen und Chancengleichheit stärken
Die digitale Infrastruktur spielt hier eine Schlüsselrolle. Wir müssen dringend das Breitbandnetz ausbauen. Schülern, die keinen Zugang zu Endgeräten haben, sollte die Möglichkeit geboten werden, diese entweder von der Schule zu leihen oder vor Ort zu nutzen. Daher begrüßen wir Initiativen einzelner Bundesländer, die in diese Richtung gehen. Zusätzliche Workshops zur Nutzung von Online-Angeboten sowie logistische Unterstützung beim Anlegen der Infrastruktur sind notwendig. In Schulgebäuden sollten Arbeitsplätze bereitgestellt werden, an denen die Schüler selbst arbeiten können — auch nach der regulären Unterrichtszeit. Kompetenzen zum selbstorganisierten Lernen müssen vermittelt werden.
Auch Ganztagsangebote und Beratungsmöglichkeiten müssen ausgebaut werden. Denn Chancengleichheit hängt nicht nur an den puren Bildungsangeboten. Auch psychische Betreuung und mentale Gesundheit sind wichtig. Zusätzliche Klassenleiterstunden und Gespräche, in denen auch Privates thematisiert wird, sind unabdingbar für die Gesundheit der Schüler. Dadurch können mögliche Probleme, Gewalt und Missbrauch erkannt werden. Lehrkräfte, Sonder- und Sozialpädagogen sollten entscheiden, wem zusätzliche Leistungen und Unterstützungen angeboten werden. Sie kennen die Schüler und ihren Bedarf. Außerdem kann es Stigmatisierung aufgrund finanzieller oder familiärer Zustände vermindern, wenn Angebot individuell statt pauschal nach solchen Kriterien verteilt werden. Damit die pädagogischen Fachkräfte diese Aufgaben leisten können, benötigen sie ausreichende Unterstützung. Informationen zu Anlaufstellen und Beratungsangeboten für Hilfesuchende sollten leicht zugänglich sein.
Wenn wir nicht wollen, dass die Corona-Krise zur Verschlimmerung der Chancenungleichheit im Schulsystem führt, müssen wir jetzt gegensteuern. Chancengleichheit ist ein hohes Gut in einer demokratischen Gesellschaft und die Basis für ein faires Bildungssystem, damit alle, unabhängig von ihrer Herkunft, die Möglichkeit auf ein selbstbestimmtes Leben haben. Nicht weniger ist unsere Vision für ein modernes Bildungswesen.