Seit Wochen sind die COVID-19-Pandemie und ihre gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen Top-Thema und Anlass für vielfältige Diskussionen. Aus verschiedenen Ecken wird dabei die „Systemfrage“ gestellt. Es heißt, der Kapitalismus sei schuld an der Krise; die Marktwirtschaft habe versagt und müsse abgeschafft und ersetzt werden – vielleicht sogar durch den Sozialismus. Auch die komplette Verstaatlichung des Gesundheitswesens und teilweise aller Versorgungsunternehmen wird ohne jede Differenzierung herbeigeträumt.
Solche Aussagen aus der Mottenkiste des Populismus kranken nicht nur daran, dass sie die Krise oberflächlich und unwissenschaftlich analysieren. Die gestellte „Systemfrage“ ist irreführend – sie stellt uns vor die Wahl zwischen zwei exklusiven Alternativen, die gar nicht exklusiv sind.
Schon vor Wochen haben wir darüber geschrieben, wie die Pandemie die Schwächen unserer Systeme offen legt. Inzwischen zeigen die Fakten auch, wie stark die soziale Marktwirtschaft in der Krise ist.
These 1: Sozialstaat ist nicht Sozialismus
Kein Zweifel: der Sozialstaat ist vor allem ein Anliegen linker Politik und wird auch von vielen Sozialisten gefordert, aber bei Weitem nicht nur von diesen. Sozialismus – interpretiert als Alternative zum Kapitalismus – ist die Abschaffung der Marktwirtschaft, der Vertragsfreiheit und des Rechts auf wirtschaftliches Eigentum. Die beiden sind weder gleichbedeutend noch zwingend miteinander verbunden.
Nehmen wir die skandinavischen Länder als Beispiel, die in Deutschland gerne für ihren ausgeprägten Sozialstaat gelobt werden. Es sind Staaten mit besonders hoher wirtschaftlicher Freiheit und auch in dieser Hinsicht international führend, z. B. gemessen durch den Index for Economic Freedom. Eine hohe Abgabenquote und sinnvolle Umverteilung, Investitionen in staatliche Infrastruktur und vernünftige Umweltschutzgesetze stellen allesamt keinen Widerspruch zur Marktwirtschaft dar.
Sozialismus und Kapitalismus schließen sich gegenseitig aus – Sozialstaat und Kapitalismus hingegen nicht. Ganz im Gegenteil: Sie können sich hervorragend ergänzen, beispielsweise in Form der sozialen Marktwirtschaft.
These 2: Länder mit sozialer Marktwirtschaft bewältigen die Krise besser
Länder mit hoher wirtschaftlicher Freiheit und einer breiten Teilhabe der Bevölkerung an der Versorgung durch das Gesundheitssystem sind auch beim Krisenmanagement überdurchschnittlich effektiv. Weitere Beispiele neben Deutschland und den skandinavischen Ländern sind Neuseeland, Südkorea und Republik China (Taiwan).
Freie Marktwirtschaft ist jedoch kein Garant für gutes Krisenmanagement. Es gibt auch allzu kapitalistische Ausnahmen wie die Vereinigten Staaten und Großbritannien. Das Problem liegt hier sicherlich zu großen Teilen bei der jeweiligen Führung, doch auch der schwache Sozialapparat hat in der Krise nicht geholfen. Auf der anderen Seite schneiden aber die sozialistischen oder zumindest wirtschaftlich weniger freien Staaten konsequent sehr schlecht in dieser Krise ab, z. B. Brasilien, Venezuela, Spanien oder Frankreich, selbst wenn COVID-19 ernst genommen wurde. Wie passt das zusammen?
Soziale Marktwirtschaft als starke Balance
Eine erfolgreiche Wirtschaft ist die Voraussetzung für einen starken Sozialstaat und ein leistungsfähiges Gesundheitswesen. Wenn die Agilität, Kreativität und Effizienz der Wirtschaft in wirtschaftlich weniger freien Ländern abgewürgt wird, kann sie auch nicht die Grundlage eines starken Staates sein.
Doch umgekehrt entsteht ein Sozialstaat auch nicht automatisch aus einer gut funktionierenden Wirtschaft. Er ist ebenso eine politische Aufgabe wie andere Faktoren, die gerade in der Krise eine wichtige Rolle spielen: Bildung, Infrastruktur, Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung und Effizienz der Bürokratie. Wirtschaft und Staat können die Krise nur gemeinsam bewältigen, wenn auf beiden Seiten die Voraussetzungen vorhanden sind.
Natürlich regelt der Markt nicht jedes Problem. Er schafft aber die Voraussetzungen dafür, dass genug Mittel vorhanden sind, damit der Staat vorbeugende Maßnahmen ergreifen kann. Es braucht also wirtschaftliche Freiheit, die ein starkes finanzielles Fundament bildet, und den politischen Willen, auf diesem Fundament ein starkes Gesundheitswesen aufzubauen. Und dann braucht es noch eine gewisse Weitsicht bei den politischen Akteuren. Denn der Mangel an Schutzausrüstung in Deutschland zu Beginn der Pandemie ist nicht dem Vorhandensein des Marktes anzulasten. Vielmehr wurden seitens des Gesundheitsministeriums Pandemiepläne nicht ernst genommen.
These 3: Privatisierung ist nicht immer negativ
Wir sehen die Stärken der Marktwirtschaft, aber auch ihre Grenzen. Gerade das Gesundheitswesen braucht eine Sonderbehandlung, denn das Verhältnis zwischen Krankenhaus und Patient ist nicht zu vergleichen mit dem Verhältnis zwischen Friseursalon und Kunde. Privatisierungen sind hier besonders kritisch zu prüfen und was privatisiert wird oder ist, muss ungewöhnlich stark reguliert werden.
Allein die Privatisierung von Krankenhäusern ist zurecht ein heißes und umstrittenes Thema. Solche Baustellen müssen wir natürlich angehen. Doch das Gesundheitswesen umfasst noch mehr, etwa Arztpraxen, Apotheken und Versicherungen und zeigt dort, dass Privatisierung problemlos funktionieren kann – eben auch im Gesundheitswesen. Und trotz aller Probleme läuft das System insgesamt recht gut. Das liegt daran, dass hier konstant eine schwierige Balance zwischen Marktwirtschaft und Staat gesucht wird, statt ideologisch getrieben in ein Extrem zu verfallen.
Die Systemfrage ist populistisch und bietet simple Scheinlösungen
Es gibt keine perfekten Systeme; alle haben Schwächen. Alle stellen uns vor die Aufgabe, sie kontinuierlich zu prüfen und zu verbessern. Wer konstruktiv, lösungs- und zukunftsorientiert mitwirken möchte, spricht differenziert über die Schwächen eines Systems und wägt bei Verbesserungsvorschlägen die Auswirkungen auf das Gesamtsystem mit Augenmaß ab. Das ist anstrengend und unspektakulär.
Wer ein System ersetzen will, weil es fundamentale Probleme hat, muss ein besseres und gut durchdachtes System anbieten, das gründlich geprüft werden und sich in der Praxis bewähren muss. Auch das ist anstrengend und nur manchmal spektakulär.
Leichter ist es, jedes Problem als Anlass zu nehmen, das gesamte System abzulehnen, häufig mit einem zynischen Unterton. Oft offenbart es eine persönliche, manchmal ideologische Agenda. Es ist keine konstruktive Kritik, es sind Stammtisch-Parolen ohne Substanz.
Wir haben noch keinen Impfstoff und kein Heilmittel gegen Corona. Das bedeutet nicht, dass die evidenzbasierte Medizin durch Homöopathie ersetzt werden muss. Viele Politiker und Behörden haben zu spät und/oder falsch reagiert. Das heißt nicht, dass die Demokratie abzuschaffen ist. Es gibt Widersprüche zwischen Virologen. Das heißt nicht, dass Wissenschaft nicht mehr funktioniert. Es gab fehlerhafte Medienberichte. Das heißt nicht, dass wir die Presse verbieten müssen.
Die Pandemie ist kein Beleg dafür, dass der Markt abgeschafft werden muss. Im Gegenteil: Er ist Teil der Lösung, vor allem in Form des Rheinischen Kapitalismus, der Sozialen Marktwirtschaft.