Selbstbestimmtes Sterben: Interview mit Olaf Sander

Das Bundesverwaltungsgericht urteilte im Jahre 2017 letztinstanzlich, dass es Schwerkranken in einer unerträglichen Leidenssituation ermöglicht werden muss, in Ausnahmefällen vom Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Erlaubnis zum Erwerb tödlich wirkender Betäubungsmittel erhalten zu können. Das Gesundheitsministerium unter Minister Jens Spahn weigert sich jedoch vehement, dieses Urteil umzusetzen.

Jens Spahns Weigerung, dieses höchstrichterliche Urteil umzusetzen, ist ein Kniefall vor der Kirche und verwehrt schwerkranken und leidenden Menschen das Recht auf ein selbstbestimmtes und würdevolles Lebensende.

Unser Landesvorsitzender Barend Wolf sprach mit Angehörigen und Experten über das kontroverse Thema des selbstbestimmten Sterbens. Den Auftakt unserer Interview-Reihe macht Olaf Sander, der seine Mutter dabei unterstützte, ihrem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen. Dieser Fall erlangte durch die 2017 im ARD ausgestrahlten Dokumentation „Frau S. will sterben“ mediale Aufmerksamkeit.

Die Humanisten: Hallo Herr Sander. Schön, dass Sie die Zeit gefunden haben, heute mit uns über das kontroverse Thema Sterbehilfe zu reden.

Olaf Sander: Gerne und vielen Dank, dass Sie mir die Möglichkeit geben, über die Sterbehilfe zu sprechen und von meiner Erfahrung damit zu berichten.

Seit der Bundestag im Jahr 2015 das „Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ erließ, ist es nahezu unmöglich geworden, schwerkranken Menschen einen Abschied in Würde zu ermöglichen. Zuvor war Sterbehilfe in Deutschland fast 140 Jahre lang straflos. Weder Ärzten noch Sterbehelfern ist es dadurch erlaubt, bei einem Suizid zu helfen. Schwerkranke Menschen werden so an ihrem Lebensende in eine entwürdigende Situation getrieben. Darum geht es auch in der 2017 im ARD ausgestrahlten Dokumentation „Frau S will sterben“. Die Dokumentation begleitet Ihre Mutter, die unter den Folgen einer seinerzeit noch nicht behandelbaren Kinderlähmung litt und sich aufgrund díeser Schmerzen einen würdevollen Tod wünschte. Ein Wunsch, der ihr durch das Gesetz von 2015 fast unmöglich gemacht wurde. Letzten Endes waren Sie es, der Ihrer Mutter helfen musste, diesen Wunsch zu erfüllen. Wie haben Sie diese Zeit erlebt? Wie war es für Sie zu wissen, dass es Ärzten untersagt ist, Ihrer Mutter im Moment schwersten Leidens zu helfen?

Die Zeit vor, während und auch noch nach der Sterbehilfe bei meiner Mutter war eine sehr aufregende Zeit – negativ aufregend. Denn einerseits musste ich mich mit dem Tod meiner Mutter beschäftigen, welcher ja obendrein noch ein besonderer, weil geplanter Tod war. Andererseits war ich fachlich auf ganzer Linie vollkommen ungeeignet, einen Menschen beim Sterben zu begleiten. Ich hatte weder medizinische, noch pharmazeutische Kompetenzen. Und ob ich mental dazu überhaupt in der Lage sein würde eine Sterbebegleitung durchzuführen, wusste ich vorher nicht.

Es ist mir vollkommen unverständlich, weshalb es Ärzten untersagt ist, schwer leidenden Menschen, die wohldurchdacht und aus gutem Grund ihrem Leben ein Ende setzen wollen, diese letzte menschliche Hilfe zu gewähren. Stattdessen hat der Gesetzgeber diese existentielle Aufgabe den Angehörigen aufgetragen, die damit in den allermeisten Fällen hoffnungslos überfordert sein dürften – es sei denn sie sind gerade zufällig Arzt oder Apotheker. Nie, in keinem Moment meines Lebens, habe ich mich verlassener und hilfloser gefühlt als an diesem Tag im Dezember 2016, an dem ich meiner Mutter half, ihr Leben zu beenden. Dieses Verbot für Ärzte, Menschen beim Sterben zu helfen, empfinde ich als zutiefst inhuman und ethisch nicht akzeptabel.

Durch den Paragraphen 217 war es nur Ihnen als Angehörigen erlaubt, Ihrer Mutter beim Sterben zu helfen. Trotz dieser Formulierung im Gesetzestext ist es unter Anwälten umstritten, wie Sie sich nach erfolgter Sterbehilfe als Angehöriger verhalten müssten, um straffrei zu bleiben. Eine geradezu paradoxe Situation und mit Sicherheit eine enorme Verantwortung für Sie. Was macht das mit einem zu wissen, dass man sich beim Versuch, seiner Mutter zu helfen, strafbar machen könnte?

Es macht Angst. Es macht Angst, wenn man, so wie ich es erlebt habe, Schwierigkeiten hat, überhaupt einen Anwalt zu finden, der einen in dieser Situation vertritt. Es macht Angst, wenn einem die Anwälte, die man im Vorfeld nach einem möglichen Beistand fragt, abraten im Licht des § 217 StGB Sterbehilfe zu leisten, weil die Rechtslage eben längst nicht so klar zu sein scheint, wie es von der Politik so lautstark behauptet wird. Als Beispiel soll hier nur die Garantenpflicht genannt sein. Da streiten sich die Gelehrten derzeit, ob die nur für Ärzte gilt oder nicht doch auch für die Angehörigen.

Können Sie kurz erläutern, um was es sich bei der Garantenpflicht handelt und weshalb diese problematisch für Sie als Sterbebegleiter war?

Die Garantenpflicht ist eine strafrechtliche Pflicht, die sicherstellen soll, dass man ein anvertrautes Rechtsgut, in meinem Fall meine Mutter, vor Schäden schützt. Das heißt ich hätte, wäre ich bei ihr geblieben, spätestens bei Eintritt der Bewusstlosigkeit mit geeigneten Maßnahmen zu ihrer Lebenserhaltung eingreifen müssen. Hätte ich das nicht getan, könnte man mich wegen unterlassener Hilfeleistung anklagen.

Strittig ist hier, ob ein Sterbewilliger mittels seiner Patientenverfügung andere Personen – also den Sterbebegleiter – nicht von der Garantenpflicht befreien könnte, so dass diese auch nach Eintritt der Bewusstlosigkeit anwesend bleiben können. Deshalb musste ich gehen, bevor meine Mutter ihr Bewusstsein verlor. Für mich fühlt sich das an, als hätte man in der Familienchronik im Kapitel über meine Mutter die letzte Seite herausgerissen.

Wie bereitet man sich als medizinischer Laie auf eine Sterbebegleitung vor?

Die „technische“ Vorbereitung, also welche Medikamente, in welcher Menge und Reihenfolge und mit welchem zeitlichen Abstand eingenommen werden mussten, oblag komplett meiner Mutter. Sie hat sich schon Jahre vorher um diese Angelegenheit gekümmert, jegliche Literatur über das Thema gelesen, derer sie habhaft werden konnte und mit jedem gesprochen, der auch nur annähernd Akzeptanz für das Thema zeigte. So ist sie wohl auch an die Medikamente und das nötige Fachwissen gekommen, wie sie sicher aus dem Leben gehen konnte.

Meine Vorbereitung war da schon etwas komplizierter. Einerseits hatte mich meine Mutter quasi mein Leben lang indirekt, durch ihre Art mich zu erziehen, darauf vorbereitet. Denn der Tod war in meiner Familie nie ein Tabuthema, auch nicht, als ich noch ein Kind war. Egal ob es sich um ein geliebtes Haustier, die Großmutter, den Suizidenten in der Nachbarschaft oder Vaters tödlich verunglückten Kollegen handelte, wir haben immer über das Sterben und den Tod gesprochen. Manchmal mehr, manchmal weniger, manchmal mit und manchmal ohne Antworten. So wie das Leben und Sterben eben sind.

Aber natürlich gibt es da noch einen Unterschied, ob man vom Tod eines anderen Menschen „nur“ betroffen ist oder ob man diesem Menschen dabei hilft zu sterben. Da bestand die einzige Vorbereitung vor allem aus vielen Gesprächen mit meiner Mutter. Über ihren Willen und über ihre und meine Grenzen, über verschiedene Möglichkeiten zu einem Suizid und über mögliche Szenarien. Am Ende ist es aber egal, was man versucht, um sich auf so etwas vorzubereiten. Wenn einem die Kompetenzen dazu fehlen, ist es einfach nur ein gefährliches Unterfangen.

Nun hatte Ihre Mutter trotz allem noch das „Glück“, in dieser Situation einen Angehörigen zu haben, der ihr bei der Durchführung des Suizids helfen konnte. Viele schwerkranke Menschen haben diese Möglichkeit nicht. Wissen Sie, welche Möglichkeiten auf ein Ableben in Würde der Paragraph 217 Menschen bietet, die keine direkten Angehörigen mehr haben?

Eine Reise in die Schweiz ist die einzige Möglichkeit, die mir einfällt. Aber die muss man sich erstmal leisten können und dann auch noch in der Lage sein, sie anzutreten. Wer in Würde selbstbestimmt sterben will braucht entweder eine wirksame Substanz, wie beispielsweise Pentobarbital oder jemanden der professionell hilft – also einen Arzt oder mindestens einen ausgebildeten Sterbehelfer.

Eine Aufhebung des Verbots der aktiven Sterbehilfe würde es wahrscheinlich einigen schwerkranken Menschen ermöglichen, selbstbestimmt und in Würden sterben zu können. Die aktive Sterbehilfe wird aber nicht nur unter Politikern, sondern auch unter Ärzten kontrovers diskutiert. Während Gegner der Sterbehilfe oft den Hippokratischen Eid anführen, welcher Sterbehilfe ausdrücklich untersagt, gibt die deutlich zeitgemäßere Genfer Deklaration des Weltärztebundes keine klare Antwort darauf, ob unter den Respekt vor der Autonomie und Würde des Patienten auch die aktive Sterbehilfe fällt. Wie stehen aus Ihrer Erfahrung die deutschen Ärzte zum Thema?

Ich kenne nicht so viele Ärzte und deren Ansichten, um hier eine objektive Antwort geben zu können. Aber wenn ich davon ausgehe, dass die Ärzteschaft auch nur ein Spiegel der Gesellschaft ist, dann dürften die Zustimmungs- und Ablehnungsraten wohl ähnlich zu denen der allgemeinen Bevölkerung sein. Dass es nur ein paar wenige Ärzte gibt, die den Mut und die Courage hatten bis zum Inkrafttreten des § 217 StGB offen zu ihrer Einstellung für die Sterbehilfe zu stehen und sie passiv zu gewähren – an dieser Stelle sei beispielhaft der so oft böswillig diskreditierte Urologe Dr. Uwe-Christian Arnold genannt – hat sicher andere Ursachen, als die tatsächlichen persönlichen Überzeugungen.

Ursächlich dafür halte ich einen übermächtigen Präsidenten in der Bundesärztekammer, Gesundheitsminister, die das Thema für beendet erklärten, wie der ehemalige Gesundheitsminister Hermann Gröhe oder aktuell höchstrichterliche Urteile ignorieren, wie der aktuelle Gesundheitsminister Jens Spahn. Deren Motivation ist es nicht, auf demokratisch redliche Weise die beste Lösung für alle zu finden und den Menschen zu dienen, die auf Wohl und Wehe mit den Konsequenzen dieser Beschlüsse leben und leiden müssen. Diesen gesellschaftlich einflussreichen Leuten geht es vor allem um ihr Weltbild, für welches sie sich zu Lobbyisten machen. Dieses Weltbild ist religiös. Aber das passt weder zur Wissenschaft der Medizin noch zur Politik in einem säkularen Staat. Und ja, auch wenn es sich hierbei nur um meine subjektive Meinung handelt, so möchte ich sie doch als Anklage verstanden wissen.

Das Bundesverfassungsgericht verhandelt derzeit Beschwerden zum § 217. Ein Grund zur Hoffnung? Was erwarten Sie sich davon?

Ich weiß es nicht. Oder anders gesagt: die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich hoffe, dass das BVerfG den § 217 StGB kippt oder wenigstens Nachbesserung verlangt. Ich hoffe, dass Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes auch für Menschen gilt, die am Ende ihres Lebens stehen und dieses Ende selbstbestimmt gestalten wollen. Ich hoffe, dass das BVerfG auch die unmögliche und ethisch mehr als fragwürdige Situation der Angehörigen erkennt und in welch furchtbare Situationen diese kommen können, wenn eine Sterbehilfe, der fehlenden Kompetenzen wegen, schief geht – ganz abgesehen von den Sterbewilligen, die danach noch viel schlimmer dran sein könnten als vorher. Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, fallen auf die Gesellschaft zurück. Sie muss sich dann nämlich nicht nur um den Sterbewilligen kümmern, der nun eventuell noch mehr Pflege und Betreuung benötigt, sie muss sich auch den traumatisierten Angehörigen annehmen und diese unter Umständen strafrechtlich verfolgen.

Ich hoffe wirklich sehr, dass das BVerfG dies erkennt. Wenn nicht, wird der Kampf um die Autonomie am Lebensende weitergehen. Dessen müssen sich die Richter und Richterinnen in Karlsruhe bewusst sein. Denn das Problem ist akut und man muss keine Glaskugel besitzen, um erkennen zu können, dass dieses Problem in der Zukunft noch viel schlimmer werden wird.

Mit der Partei der Humanisten gibt es in der Parteienlandschaft nun eine junge Partei, die sich für die Aufhebung des Verbots der aktiven Sterbehilfe einsetzt. Welche Erwartungen stellen Sie an unsere Partei und welche Ratschläge möchten Sie uns bezüglich des Themas Sterbehilfe mit auf den Weg geben?

Ihre Forderung ist eindeutig und unterstützenswert. Aber sie braucht Regeln, die einerseits eine Inanspruchnahme gewährleisten können und andererseits Missbrauch verhindern. Ein ganz wichtiger Part bei der aktuellen und auch einer eventuell zukünftigen Regelung zur Sterbehilfe sind die Angehörigen. Leider kommen diese und ihre Situationen in so ziemlich keiner Debatte zur Sprache, weil es keine Fürsprecher für sie gibt. Sie stehen vor, während und nach einer Sterbebegleitung vollkommen alleine da.

Vergessen Sie sie nicht. Das wäre mir sehr wichtig.

Herr Sander, vielen Dank für das Gespräch.

Gerne und vielen Dank.


Weiterführende Informationen:

Unsere Position zur Sterbehilfe:
Artikel zum Thema Sterbehilfe
Abschnitt Sterbehilfe im Positionspapier Gesundheitspolitik
Ausführliche Sterbegeschichte von Olaf Sander
Dokumentation „Frau S. will sterben“ in der ARD Mediathek